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Johanna Jaufer

Revival of the fittest... aber das war noch nicht alles.

14. 7. 2016 - 11:45

Frankreich bleibt im Ausnahmezustand

Die Europameisterschaft ist geschlagen, der Alltag hält wieder Einzug auf den Straßen von Paris - und damit die Auseinandersetzung um die neuen Arbeitsgesetze.

31 Tage, 51 Spiele: Die Euro ist geschlagen. Bei den großen Public Viewings vor Ort wurde die Europameisterschaft mehr oder weniger professionell abgespult. Und das, obwohl die Lage in Frankreich mehr als angespannt ist: Vor mehr als sechs Monaten hatte die französische Regierung den Ausnahmezustand verhängt. Argument war die Sorge über mögliche Terror-Akte.

Zunächst sahen sich aber Umweltaktivisten von den Maßnahmen betroffen. Einige wurden vor der Pariser Klimakonferenz Ende 2016 unter Hausarrest gestellt und vielfach wurden Demonstrationen verboten. Mit dreieinhalb Millionen Arbeitslosen und zahllosen prekär Beschäftigten steht das soziale Klima im Land an der Kippe. Ab März ist es zu spontanen abendlichen Versammlungen und Protestkundgebungen gekommen. In zahlreichen Großstädten haben sich die sogenannten „Aufrechten der Nacht“ zusammengefunden, auf Französisch „Nuit Debout“. Sie wenden sich gegen das, was die Regierung „Reform“ nennt: Beschneidungen des Arbeitsrechts, weniger Kollektivverträge, längere Arbeitszeiten und weniger Kündigungsschutz.

Im Interview lässt Mélina Germes die letzten Monate Revue passieren. Die Geographin und Polizeiforscherin hat regelmäßig an "Nuit Debout"-Aktivitäten teilgenommen.

Mélina Germes

Mélina Germes

Mélina Germes

Was hat denn der von der Regierung verhängte Ausnahmezustand für Menschen, die in Frankreich auf die Straße gehen, verändert?

Der Ausnahmezustand hat zwei Dimensionen. Erstens verändert er die Regeln, nach denen der Staat und seine Institutionen funktionieren; gibt der Polizei besondere Vollmächte – die Exekutive hat jetzt Möglichkeiten, Demonstrationen einzuschränken, Versammlungsfreiheit zu beschneiden. Zweitens geht es um die Praktiken, die sich dabei herausbilden: der Ausnahmezustand ist seit mehr als einem halben Jahr in Kraft. Wenn die Polizei monatelang über besondere Befungnisse verfügt (z.B. die Möglichkeit zu Hausdurchsuchungen und Festnahmen ohne richterliche Anordnung), dann erlaubt sie sich irgendwann mehr – sie bekommt eine größere Rolle in der Gesellschaft und erlaubt sich dann auch mehr. Nicht nur die Polizei an sich, sondern die Exekutive generell verhält sich anders, weil die legislativen Mächte und die Justizmächte beschränkt werden. Das ist die grundsätzliche Veränderung. Was im Verhältnis zu den Bewegungen gegen die „loi travail“ schlimm ist: individuelle Demonstrationsverbote, Platzverweise können für etwa eine Stadt wo eine Demo angekündigt war, für einen ganzen Tag oder halben Tag, vergeben werden. Bestimmte DemonstrantInnen, AktivistInnen dürfen dann am Tag der Demonstration nicht mehr aus ihrem Haus heraus. Das ist selbstverständlich eine Einschränkung der Grundrechte.

Das muss im jeweiligen Fall gar nicht konkret begründet werden?

Doch, es muss konkret begründet werden. Aber die Begründungen durch Richter, die wir gesehen haben, erweisen sich als sehr oberflächlich, z.B. „die Teilnahme an der Demonstration ist Ihnen verboten, weil wir Sie bei einer anderen Demonstration gesehen haben, in deren Verlauf es zu Gewalttaten kam“ – gemeint ist hier z.B. Fensterbruch – aber es gibt gar keinen Hinweis, kein Indiz, keinen Beweis dafür, dass diese Person am genannten Fensterbruch beteiligt war. Außerdem gab es in den letzten Monaten zahlreiche Fälle von Polizeigewalt. Die Demos wurden von „street medics“ begleitet, das sind DemonstrantInnen, die im Falle von Verletzungen sofort Hilfe leisten können – weil die Polizei Krankenwägen den Zugang zur Demo verwehrt – medizinische Versorgung muss also von innerhalb der Demo kommen. Teams dieser „street medics“, ganz einfache Leute, die nicht immer Ärzte sind, aber Krankenpflege- oder Erste-Hilfe-Ausbildungen haben, haben bisher von mehr als 1000 von der Polizei verletzten Menschen berichtet. Diese Vorgänge stehen nicht in direktem Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand, aber es werden dabei Grundrechte verletzt. Das Verhalten von Polizei und Justiz ist systematisch problematisch. Die Polizei ist systematisch gewalttätig gegenüber DemonstrantInnen; es werden viele Leute festgenommen. Die Festgenommenen werden von der Justiz im Schnellverfahren und auf Basis mitunter sehr dünner Beweislagen abgeurteilt. Letztens wurde ein Deutscher Demonstrant der in Frankreich festgenommen worden war, zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt und mit einem dreijährigen Einreiseverbot belegt. Er ist innerhalb weniger Tage verurteilt worden – ohne anständige Verteidigung und ohne Beweis. Der einzige Beweis den die französische Justiz gegen ihn „gefunden“ hat, ist total lächerlich: er war schwarz gekleidet, das heißt für sie gleich, dass er zum „schwarzen Block“ gehören muss. Gleichzeitig ist er Mitglied einer Studentengruppe aus Berlin, dem „Institut für Chaos“ – dabei handle es sich um eine Neonazi-Organisation. Man sieht, dass diese Rechtfertigungen der französischen Justiz und des Staatsapparates lächerlich und nicht stringent sind. Dem fallen viele Menschen zum Opfer: Laut offiziellen Statistiken von Justiz- und Innenministerium wurden alleine bis Ende Juni im Rahmen der Proteste mehr als 1800 Menschen festgenommen und mehr als 750 vor Gericht gestellt.

Es gibt neben „Nuit Debout“ und der linken Gewerkschaft CGT auch die sozialdemokratische Gewerkschaft CFDT. Wie verhält sie sich?

Die sozialdemokratische Gewerkschaft CFDT verhält sich wie die Sozialdemokratische Partei: Sie unterstützt das neue Gesetz, das die europäischen Ansprüche an die französische Gesetzgebung und die Ansprüche der Arbeitgeberverbände realisiert. Wenn man die Geschichte der Gewerkschaften in Frankreich verfolgt, ist das überhaupt nicht überraschend. Das ist nichts Neues. Auch die CGT, die große linke Gewerkschaft, hat die Bewegung nicht angestoßen - sie hat sich den StudentInnen und den Bewegungen der Prekären angeschlossen. Das ist sehr wichtig zu betonen: Sie spielt eine sehr wichtige Rolle, ist aber nicht „Anführerin“. Sie repräsentiert ein bisschen, weil sie mit der Regierung verhandelt – oder versucht zu verhandeln – was „Nuit Debout“ bzw. die Kollektive die sich auf den Straßen äußern, nicht machen und bestimmt nicht wollen. Es gibt viele Aktionen, die von der CGT nicht geplant oder organisiert sind und die selbstständig laufen. Das ist auch eine große Neuerung im Rahmen dieser Bewegung: dass die Selbstorganisierung zunimmt und es ermöglicht, eine Form von Politik außerhalb der klassischen republikanischen Institutionen zu finden und dabei in der politischen Auseinandersetzung viel Kraft zu zeigen. Aber das bedeutet auch, dass diese alten Gewerkschaften annehmen sollten, in Frage gestellt zu werden – so wie die alten, aber doch bestehenden Parteien annehmen sollten, in Frage gestellt zu werden.

Eine große Menschenmenge in der Abenddämmerung beim "Nuit Debout".

Christophe Kohl

„Nuit Debout“-VertreterInnen werden auf die Frage, ob man auch repräsentativ agieren wolle, oft mit der Aussage zitiert, keine Partei gründen zu wollen…

Erst einmal kann es meiner Meinung nach gar keine „VertreterInnen“ geben: wer sich als VertreterIn ausgibt, hat nicht verstanden, worum es geht. Es geht genau nicht darum, zu „vertreten“. Man kann seine eigene Erfahrung, Meinung aus der aktivistischen Erfahrung heraus wiedergeben, aber es ist dabei wichtig, dass genau diese Vertretungsprozesse grundsätzlich in Frage gestellt werden. Der Vorteil von „Nuit Debout“ ist, dass sich darüber eine sehr breite Diversität an Meinungen äußert – daher ist es unmöglich, von „Vertretung“ zu sprechen. Dieser Teil der Antwort ist auch mit meiner „inhaltlichen“ Antwort verknüpft: Die Herausforderung die uns nicht nur in Frankreich, sondern europaweit erwartet, ist, eine neue Form des Politischen zu finden, in dem wir die klassischen staatlichen Institutionen wie sie jetzt bestehen, nicht mehr brauchen, weil wir neue Arten der kollektiven Organisierung von Gesellschaft geschaffen haben. Das macht eine radikale Veränderung notwendig. Nur die kann uns meiner Meinung nach davor bewahren, weiterhin rechtsextreme und konservative Politiken zu stützen, neoliberalen Strukturen und Fremdenfeindlichkeit entgegenzutreten. Das sehen wir heute in Frankreich sehr deutlich: die staatlichen Institutionen, ihre Vertreter: da ist der Wurm drin. Sie funktionieren im Kern nicht. Wir erleben sie als nicht reformierbar, weil in der Tiefe ihrer eigenen Institutionen Strukturen geschaffen sind, die gegen die Demokratie spielen. Wenn eine Richterin einen Aktivisten verurteilt und dabei den Aktivismus gegen die „loi travail“ mit Terrorismus gleichsetzt, dann haben wir ein großes Problem. Weil ihre politische Meinung ihr Urteil beeinflusst. Das ist ein grundsätzliches Problem. Das gilt auch für die Parteien. Wie funktionieren politische Parteien? Sie sind kein Ausdruck des politischen Interesses der Basis, sondern sind Ausdruck von Interessen einer bestimmten Elite, einer Klasse in der Gesellschaft. Wenn man die Soziologie der Parteien ansieht, wir das sehr deutlich.

So ähnliche Kritik gibt es doch auch gegenüber „Nuit Debout“ – dass manche sagen: „ihr seid eher junge, gebildete Leute, es sind nicht so viel Arbeiter aus den nördlichen Regionen dabei, wo bei Wahlen der „Front National“ sehr stark ist“…

„Nuit Debout“ ist ein wichtiger Puzzlestein, aber reicht nicht aus. Ich denke nicht dass, „Nuit Debout“ ausreicht für eine politische Veränderung. „Nuit Debout“ ist nützlich, weil es ermöglicht, dass sich überall in Frankreich, in den hunderten Gruppen in Städten und Vierteln, zahlreiche Leute politisch und öffentlich ausdrücken und artikulieren können. Was gesagt wird, ist dann sehr unterschiedlich. Es gab viele Vorurteile gegenüber „Nuit Debout“. Ein wissenschaftliches Projekt von Soziologen die „Nuit Debout“ ein bisschen systematischer untersucht haben, zeigte, wie vielfältig die Bewegung ist: de facto treffen sich Studenten, Akademiker – die die wenigen Akademiker die sich die Zeit dafür nehmen (wollen) – viele prekäre ArbeiterInnen, Teilzeitarbeitende, Arbeitslose, Obdachlose... Es ist ein Ort wo all diese Menschen gemeinsam sprechen können. Zwar sind sie nicht „in Prozent“ repräsentativ für die französische Gesellschaft, das wird aber auch nicht angestrebt. Was angestrebt wird ist, dass alle Menschen, die unzufrieden sind mit den aktuellen Zuständen in der Gesellschaft, und die eine radikale Kritik an dieser Form der Demokratie und eine radikale Kritik gegenüber einer Wende nach Rechts formulieren wollen, sich treffen und eine neue Form der Politik im internationalen Kontext finden können. Ich meine damit nicht, dass „Nuit Debout“ das erfunden hat, sondern für viele ermöglicht, sich zu organisieren.

Zur Rolle der Medien: Wenn man nur große Tageszeitungen und Medien konsumieren würde, konnte man z.B rund um den Aktionstag Mitte Juni oft ausschließlich von „70 Verhafteten“ lesen, nicht von Hunderttausenden, die auf die Straße gehen. Wie siehst du die Rolle der größeren Medien europaweit, aber auch in Frankreich, im Verhältnis zu den Protesten?

Zum Glück gibt’s es trotzdem Medien, die berichten … aber die Massenmedien berichten tatsächlich nicht über die politischen Vorgänge, nicht in Frankreich und nicht im Ausland. Mehrmals hatten Artikel als Aufhänger Bilder, die offensichtlich Polizeigewalt zeigten – sei sie berechtigt oder nicht, das geht aus dem Bild nicht hervor – wo mehrere Polizisten auf einen Menschen einprügeln, der am Boden liegt – wo man sich fragen kann, was für ein Risiko stellt ein Mensch in so einer Situation dar – und gleichzeitig haben Titel, Untertitel und Text des Artikels nur die Auseinandersetzungen an sich benannt. Als ob es sich um zwei gleich starke Parteien handle, die einander auf Augenhöhe begegnen. Das ist nicht der Fall. Und da zahlreiche Zeugenberichte – für jedermann im Internet verfügbar – zur Verfügung stehen, kann man nur sagen: Medien berichten nicht darüber, weil sie es nicht wollen. Französische wie ausländische. Nur alternative Medien ermöglichen es, sich über die Proteste zu informieren – Massenmedien nicht.

nuit debout

APA/AFP/Geoffroy van der Hasselt

Ich habe auch das Argument gelesen, es sei „zu viel los“, die Euro „dominiere alles“…

Naja – man nimmt sich etwa die Zeit, über 70 Festgenommene zu berichten, aber nicht über einen lebensgefährlich verletzten Menschen. Die Frage ist, warum. Die Fragte stellt sich für französische Medien, aber auch für ausländische und in allen vergleichbaren Situationen. In der öffentlichen Meinung, für die Medien soll die Polizei unantastbar bleiben. Polizisten werden in der Kultur – das sieht man, wenn man den Fernseher anmacht und irgendeinen Krimi ansieht, Polizisten werden in unserer Kultur als Helden betrachtet. Und in Frankreich ist das so stark, dass die kleinste Kritik an der Polizei öffentlich delegitimiert wird. Das stellt wiederum die Frage nach Demokratie. Denn normalerweise ist die Polizei nur ein Arm des Exekutive – um die öffentlichen Freiheiten zu schützen. Aber heute wird sie zum Arm einer Regierung, die einen Protest nicht ertragen möchte. Daher wird der Polizei mehr Macht, werden ihr mehr Befugnisse gegeben. Z.B. dürfen sie bald ihre Waffe auch außerhalb der Dienstzeiten tragen. Es stellt auch die Frage, wie sehr eine solche Polizei sich in weiterer Folge von der Exekutive lossagt. Mit Blick auf die Geschichte besteht ein gewisses Risiko, dass die Polizei selbst Macht auf die Exekutive ausübt.

Noch einmal zur Rolle der Medien und Öffentlichkeit: Man berichtet mitunter nicht über die Hunderttausenden die auf die Straße gehen, aber über einen Einbruch um die Ecke…

Oder über zwei Polizisten, die von einem Verrückten, der sich zu Terroristen bekennt, getötet wurden. Das ist gleichzeitig passiert mit der Demo am 14. Juni, und hat sie in den Medien total untergehen lassen. Das ist eine sehr wichtige Frage. Um das zu erklären, muss man sich auch die Arbeitsbedingungen der JournalistInnen ansehen. Wir haben auch unter JournalistInnen eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Und: sie werden von Unternehmen angestellt um etwas zu erzählen. Diese Unternehmen haben auch bestimmte Interessen. Wir wissen schon: Es geht nicht um den guten Willen einzelner Personen – sondern auch um die Freiheit ihren Beruf auszuüben. Es gibt in Frankreich eine Zeitung online, Mediapart, die nicht abhängig von Werbung, kollektiv organisiert und kein Unternehmen im engsten Sinne ist. Sie berichtet derzeit am Detailliertesten über die Proteste – wie auch sonst über jeden politischen Skandal. Das ist ein anderes ökonomisches Modell. Das heißt: Modelle von Medien, die entweder Medien des Staates sind, wo die Regierung Druck ausüben kann, oder Medien, die als Unternehmen organisiert sind und dem Druck der zu Grunde liegenden Hierarchie ausgesetzt werden, sind veraltete Modelle. Wir brauchen mehr Medien, die selbstfinanziert sind. Mehr Leser, die bereit sind für Inhalte zu bezahlen.

Frankreich ist ja nicht alleine – beispielsweise mit dem Euro. Wir sind ja in einem Währungsraum mit all seinen Kräfteverhältnissen und Machtungleichgewichten. Gibt es überhaupt eine Chance für die Menschen die auf die Straße gehen, etwas für Arbeitslose, Prekäre zu bewirken, wenn Protest so nationalstaatlich organisiert ist? Auch wenn es innerhalb eines Landes neue Strukturen gibt, müsste man ein ähnliches Interesse etwa von Menschen im Euroraum nicht gemeinsam formulieren?

Selbstverständlich, aber das passiert schon. Das Entstehen von „Nuit Debout“ beruht auch auf der Erfahrung von AktivistInnen, die auf Erfahrungen in Griechenland und Spanien zurückgreifen. Diese Proteste werden durch sehr engen internationalen Austausch getragen und fördern diesen auch. Das ist sehr wichtig. Ob Europa der richtige geographische Bezug für diese Kämpfe ist, weiß ich nicht. Aber ich finde, dass es sehr wichtig ist sich zu vernetzen, weil wir als aktive Menschen noch in der Minderheit sind, und zweitens, weil die staatliche Repression und Überwachung sehr stark ausgeprägt ist gegenüber linken Bewegungen in Europa – in Deutschland auch. Ohne internationale Solidarität innerhalb aktivistischer Kreise kann man eine Alternative gar nicht denken.