Erstellt am: 22. 7. 2016 - 13:06 Uhr
Norwegen fünf Jahre nach dem Terror
Es begann mit einer Explosion im Osloer Regierungsviertel. Als klar war, dass eine Autobombe im Stadtzentrum detoniert war, die acht Menschen tötete, wurde zunächst über einen Terroranschlag islamistischen Ursprungs gemutmaßt. Anders Behring Breivik war zu diesem Zeitpunkt bereits unterwegs auf die Insel Utøya, etwa 30 Kilometer von Oslo entfernt.
Auf Utøya hielten gerade rund 600 TeilnehmerInnen der AUF, die Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei, ihr alljährliches politisches Sommercamp ab. Breivik eröffnete dort etwa drei Stunden nach dem Attentat im Regierungsviertel das Feuer. 69 Menschen starben auf der Insel, wurden von dem Rechtsextremisten erschossen oder ertranken beim Versuch zu fliehen. Sie wurden zum Ziel des Terrors, weil sie für ein offenes und multikulturelles Norwegen standen.
Die Attentate des 22. Juli 2011 gingen als schlimmste nationale Tragödie seit dem 2. Weltkrieg in die Geschichte Norwegens ein.
Jan Hestmann / Radio FM4
Friedliches Land, schwankendes Sicherheitsbedürfnis
Norwegen gilt als besonders friedliches Land, führt den Wohlstandindikator Human Development Index weltweit unangefochten an. Umso unvorbereiteter treffen die Anschläge vom 22. Juli das Land. Norwegen habe seine Unschuld verloren, wird damals zur gängigen Floskel.
Die norwegische Zeitung Aftenposten schreibt fünf Jahre nach den Anschlägen, dass der 22. Juli 2011 das Land für immer verändert habe. Bloß inwiefern?
Unmittelbar nach den Anschlägen trat der damalige Premierminister Norwegens, Jens Stoltenberg von der Arbeiterpartei, dem Terrorakt entschieden entgegen: "Unsere Antwort wird mehr Offenheit und mehr Demokratie sein" verkündete er damals am Osloer Rathausplatz vor zigtausend Trauernden. Diese politische Haltung ist es, die der Rechtsextremist Breivik mit seinen Attacken bekämpfen wollte. Sie sollte nun erst recht hochgehalten werden. Unmittelbar nach den Anschlägen hatte Stoltenberg mit seiner Haltung die Bevölkerung hinter sich.
Sondre Lindahl
Dabei ist ein solcher Rückhalt gar nicht selbstverständlich. Denn Norwegen ist ein Land mit tendenziell hohem Sicherheitsbedürfnis. Der norwegische Anti-Terror-Experte Sondre Lindahl erklärt im Interview, dass die norwegische Bevölkerung bereits vor den Anschlägen am 22. Juli 2011 strengen Überwachungsmaßnahmen des Staats im internationalen Vergleich auffallend positiv gegenüberstand. So befürworteten 80 Prozent der Bevölkerung etwa das Abhören von privaten Mobiltelefonen. Das ist ein höherer Wert als in den USA, sagt Lindahl.
Außerdem weist Norwegen im Jahr 2011 den höchsten Anteil an privatem Waffenbesitz pro EinwohnerIn in Europa auf. Aftenposten veröffentlicht unmittelbar nach dem Anschlag eine Grafik, wonach jede/r zehnte NorwegerIn eine oder mehrere Handfeuerwaffen besitzt.
Unmittelbar nach Breiviks Anschlägen passierte allerdings etwas Unvorhergesehenes: Der Zuspruch gegenüber staatlicher Überwachung nahm deutlich ab, sagt Lindahl, die Bevölkerung wurde kritischer gegenüber Anti-Terror-Maßnahmen. Man hätte das Gegenteil erwarten können. Indirekt verliehen die Anschläge der norwegischen Gesellschaft für eine kurze Zeit ein neues Selbstbewusstsein und ließ sie zusammenrücken.
Dieser Zustand währte allerdings nicht lange. Zwei Jahre später habe sich die Haltung gegenüber strengen Anti-Terror-Maßnahmen bereits wieder "normalisiert", so Lindahl. Das erhöhte Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft ist zurückgekehrt. Und wird auch befeuert durch die steigenden Ängste gegenüber islamistischer Radikalisierung.
"Nur" ein einsamer Wolf
Das Buch "Einer von uns - die Geschichte eines Massenmörders" von Åsne Seierstad arbeitet das Leben Breiviks auf um die Frage zu stellen, wie es zu der Tat kommen konnte. Die New York Times hat es zu den 10 besten Büchern des Jahres gewählt.
Im Jahr 2013 ist die regierende Arbeiterpartei rund um Stoltenberg durch eine Rechtskoalition, bestehend aus der konservativen Høyre und der rechtspopulistischen Fortschrittspartei (bei der sich auch Breivik in jungen Jahren engagiert hatte, allerdings Außenseiter blieb), ersetzt worden. Die Offenheit, die Stoltenberg 2011 propagierte, teilt diese Regierung nicht. Speziell wenn es heute um Flüchtlingspolitik geht, verfolgt sie einen harten Kurs, der von einer "Grenzen zu"-Rhetorik geprägt ist.
Aber auch was die norwegische Sicherheitspolitik betrifft, tritt sie für Verschärfungen ein. Dabei spielt nicht etwa die Sorge gegenüber Rechtsextremismus eine Rolle - denn Breivik wurde als "Lone Wolf Terrorist" kategorisiert. 2012 gab es in Norwegen zwar neue Gesetze, die sich auf die Prävention von Terroranschlägen durch Einzeltäter bezogen. Lindahl zitiert aus seiner damaligen Forschungsarbeit allerdings jemanden, der an diesen Gesetzen mitgearbeitet hat. Es sagt sinngemäß: Wäre es ein Muslim gewesen, wären die Gesetze wesentlich schärfer ausgefallen, als bei diesem Anschlag durch einen ethnischen Norweger.
Dazu passen die heutigen Bemühungen der Regierung, die Sicherheitsgesetze zu verschärfen, die vor allem von der europaweiten Angst gegenüber des IS-Terrors angetrieben werden. Zu Beispiel wird aktuell im norwegischen Parlament diskutiert, ob norwegische PolizistInnen Waffen am Körper tragen dürfen, so Lindahl. Momentan sind sie dazu nämlich nicht befugt. Lediglich 2014, infolge mehrerer Terrorwarnungen, waren für ein Jahr bewaffnete PolizistInnen in Norwegen zu sehen. Die Terrorgefahr wurde nach einiger Zeit allerdings wieder für vorüber erklärt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Anschläge durch Breivik im Jahr 2011 unmittelbar keine solche Diskussion auslösen konnte. Dabei stand die Polizei damals unter schwerer Kritik. Es heißt, sie wäre schlecht vorbereitet gewesen, habe viel zu langsam reagiert. Zum Beispiel war ein Grund, warum Breivik etwa eineinhalb Stunden Zeit hatte, auf Utøya auf Camp-TeilnehmerInnen zu schießen, dass kein Polizeihubschrauber eingesetzt werden konnte. Die gesamte zuständige Crew war auf Urlaub.
Trauerarbeit, Erinnerungskultur und "Breivik-Museum"
Die norwegische Fotografin Andrea Gjestvang hat Überlebende portraitiert.
2015 war schließlich ein turbulentes wie auch wichtiges Jahr für die norwegische Trauerarbeit und Erinnerungskultur in Bezug auf den 22. Juli 2011. Im Osloer Regierungsviertel, wo die Autobombe detoniert war, hat das 22-Juli-Zentrum eröffnet, um die Anschläge mittels einer festen Ausstellung zu verarbeiten.
Es regte sich schell Widerstand aus der Bevölkerung gegen das auch abschätzig als "Breivik-Museum" bezeichnete Zentrum. Es werden dort sogar Teile des von der Bombe zerstörten Autos zur Schau gestellt, schildert Lindahl, viele NorwegerInnen würden das Ereignis lieber vergessen wollen, als diese "offene Wunde" mitten im Stadtzentrum ertragen zu müssen. Ein sinnvoller Mittelweg müsse gefunden werden, so Lindahl, auch um aus der Vergangenheit zu lernen.
AFP
Auf Facebook erinnert die Jugendorganisation AUF fünf Jahre später mit diesem Video und den Worten "Vi glemmer aldri We will never forget".
2015 wurde Utøya als Ort für das AUF-Camp wiederbelebt. Schon unmittelbar nach den Anschlägen Breiviks sprach die Jugendorganisation der Arbeiterpartei davon, die Insel so schnell wie möglich "zurückerobern" zu wollen und bereits 2012 wieder ein Camp zu veranstalten. Der tatsächliche Verarbeitungsprozess dieses kollektiven Schocks nahm dann doch mehr Zeit in Anspruch, da sich auch lange Widerstand von den Angehörigen der Opfer gegen eine Neuauflage regte.
Sondre Lindahl weist darauf hin, dass allein die AUF seit den Anschlägen 5000 Mitglieder dazugewonnen hat. Generell sei das Interesse an politischem Engagement unter den jungen NorwegerInnen seit dem 22. Juli 2011 merkbar gestiegen. Unabhängig davon, für welche politische Richtung, sei das in jedem Fall eine sehr positive Entwicklung.