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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

9. 7. 2016 - 10:44

Architektonische Apokalypse

Ein großartiger Film, einem grandiosen Roman folgend: Ein Loblied auf "High Rise" und seinen Regisseur Ben Wheatley.

Über meinen bestürzenden Erstkontakt mit einem Werk des einzigartigen Autors J.G. Ballard habe ich an dieser Stelle ja bereits geschrieben. Als durchaus verstörend könnte man auch den Moment bezeichnen, als ich die filmische Bekanntschaft mit Regisseur Ben Wheatley machte.

Es war eine Spätvorstellung beim superen Slash Filmfestival, anno 2011, und ich hatte damals bereits ein oder zwei grimmige Blut- und Beuschel-Epen hinter mir. Aber auch als ziemlich abgebrühter Horrorfilmkonsument war ich nicht auf "Kill List" vorbereitet, den Film, mit dem der Brite Wheatley den internationalen Durchbruch schaffte.

Die Geschichte von zwei befreundeten Pärchen, deren Traum vom gehobenen Mittelklasse-Leben zu scheitern droht, saugt einen mit rauen Schnappschüßen aus der abgehalferten Vorstadt-Wirklichkeit vollends ein. Wenn sich dann bald entpuppt, dass die beiden Ehemänner grausige Mordaufträge annehmen, um das kleine bisschen Pseudo-Luxus zu finanzieren, ist man mitten drin in einem Horrorfilm, der Anleihen beim rauen Brit-Realismus eines frühen Mike Leigh nimmt. Dass "Kill List" im letzten Drittel dann in eine vollkommen andere, mehr als gespenstische Richtung abbiegt, erwischte mich schließlich eiskalt.

Kill List

Senator Film

"Kill List"

Tiefschwarze Serienkiller-Satire

Ich habe nach dem nächtlichen Kinobesuch etwas gemacht, über das ich gleichzeitig schmunzeln musste. In Erinnerung an ein Kindheitsritual, nämlich nach einem besonders gruseligen Gänsehautfilm noch ganz bewusst in den dunklen häuslichen Keller zu gehen, um mich zu versichern, dass wirklich nichts da unten lauert, besuchte ich in meinen Wiener Wohnhaus den verlassenen Müllraum. Knippste das Licht an, stand alleine zwischen den Containern, atmete tief durch. Endlich ein Schocker, der auch mich abgehärtete Seele schockierte. Später, im Bett liegend, durchforstete ich noch das Netz nach Informationen über Ben Wheatley.

Dem Meisterwerk "Kill List" folgte im Jahr 2012 der auf eine ganz andere Weise irritierende "Sightseers". Wheatley zeigt darin ein ganz durchschnittliches junges Paar, mit ziemlicher Nerd-Schlagseite allerdings, auf einer Rundreise durch England. Als es wegen einer unhöflichen Kleinigkeit zu einem Streit mit einem anderen Touristen kommt, fetzt es eine Sicherung im Kopf der vermeintlich trolligen Protagonisten. Ein Mord passiert und es wird nicht der letzte in dieser tiefschwarzen Satire sein.

Abermals lässt Wheatley, der stets ganz eng mit seiner Frau, der Drehbuchautorin und Cutterin Amy Jump zusammenarbeitet, die Alltagsfassaden einstürzen. Er zeigt, wie aus banalen Auseinandersetzungen fatale Situationen entstehen können, in "Sightseers" eben auf ganz andere Weise als in "Kill List". Ich erinnere mich an einem Gespräch mit den britischen Comedystars Simon Pegg und Nick Frost, die mir von ihrem Freund Ben Wheatley erzählen, der auch wie sie gerne Küchenchef geworden wäre, der Humor im Schaffen dieses Regisseurs wird mir so richtig bewusst.

zwei Turisten

Sightseers

"Sightseers"

Wohn-Utopie nach Klassenschema

Trotzdem überrascht mich 2013 "A Field in England", das psychedelische Experiment zum Low-Budget-Tarif, von Wheatley und Jump zwischen zwei größeren Produktionen mal schnell eingeschoben. Mit einer Handvoll Schauspielern inszeniert der Regisseur einen Historienstreifen in Schgwarzweiß, der wirkt, als ob Monty Pythons und Alejandro Jodorowsky einen derben Brit-Klamauk auf narrischen Schwammerl gedreht hätten. Zugegeben kein unanstrengender Film, aber schon wieder einer, der das spezielle Talent und die Vision von Ben Wheatley demonstriert.

Und jetzt also "High-Rise", die Verfilmung des legendären Romans von J.G. Ballard, an der verschiedene Regisseure seit Jahrzehnten im Vorfeld gescheitert waren. Mit Wheatley, Jump und dem fantastischen Tom Hiddleston in der Hauptrolle hat sich ein Dreamteam versammelt, um dem Spirit des verstorbenen Ausnahmeautors gerecht zu werden.

Ein Luxus-Wohnprojekt dient in dem Film als Symbol für die westliche Gesellschaft: Dr. Robert Laing (Hiddleston), ein frisch geschiedener Arzt, zieht in ein frisch fertiggestelltes Hochhaus am Stadtrand von London, in dem ein strenges Klassensystem herrscht. Ganz oben, wo auch der Architekt Royal (Jeremy Irons) residiert, leben die Reichen, darunter die gehobene Mittelklasse, zu der auch die Hauptfigur zählt, ganz unten das Fußvolk mit klassischen Angestellenjobs. Arme sind aus der Utopie selbstverständlich ausgesperrt.

High-Rise

Thimfilm

"High-Rise"

Lang lebe der innere Schweinehund

Stromausfälle, Müllberge und Diskussionen über die Benutzung des Swimmingpools (auch ein Supermarkt, eine Grundschule und ein Spa-Bereich sind für alle zugänglich) führen zu Konflikten, zwischen den unterschiedlichen Bewohnern, die bald eskalieren. Während nichts naheliegender wäre, als die langsame Zuspitzung der Gewalt in dem Wohnturm zu zeigen, also sorgfältig Spannung aufzubauen bis zur Katastrophe, ignorieren Ben Wheatley und Amy Jump bewusst alle dramaturgischen Regeln. "High-Rise" ist, wie "The Neon Demon" oder "Under The Skin", einer dieser neuen Filme, die starren Drehbuchgesetzen den gestreckten Mittelfinger zeigen.

Also fasst Wheatley alles, was bei Regiekollegen den zentralen Inhalt ausgemacht hätte, frech in einer kurzen Montage zusammen und springt vom Beginn der Krise rasch an den Endpunkt. Der Film hat somit genug Zeit, um sich ausgiebig den diversen anarchischen Szenarien des Untergangs zu widmen.

Sexuelle Ausschweifungen. Gewalttätige Ausschreitungen. Alkohol- und Drogendelirien. Umklammert und auch beschützt von einer brutalistischen Architektur lassen die Menschen im Hochhaus den inneren Schweinehund raus, Robert Laing ist zunächst nur als faszinierter, aber neutraler Beobachter dabei. "Life is good in the High-Rise", wird irgendwann sein Resümee lauten, während er in den Ruinen einen Hundekadaver grillt.

High-Rise

Thimfilm

"High-Rise"

Extravagantes Kino-Experiment

Man kommt natürlich nicht umhin, an eine Zukunft zu denken, in der rechtsradikale Politiker regieren, der Kapitalismus apokalyptisch kippt und auf den Straßen offener Krieg herrscht. Gerade in dem Wheatley den Film wie das Buch in den mittleren 70ern ansiedelt, wird die warnende Botschaft noch überdeutlicher. "High-Rise" ist, ganz im Sinne des Autors Ballard, aber kein billiges politisches Messagekino. Es ist ein ambivalent gehaltener Fiebertraum von Film, eine Kollission dekadenter Tableaus und mitreißender Sounds, vom klassisch inspirierten Score eines Clint Mansell bis zum Abba-Hit "SOS", der in der Gefrierschrank-Version von Portishead zum Höhepunkt wird.

Der Blick auf die vergangene Epoche gibt Wheatley auch die Gelegenheit das künstlerisch spannende britische Kino der 70ies zu zitieren. Da flackern Reminiszenen an Stanley Kubrick ebenso auf wie auf den ebenbürtigen, aber unterschätzten Kinogott Nicolas Roeg. Durch die exquisiten Schauplätze der Verwüstung taumeln dabei großartige Schauspieler. Neben Tom Hiddleston, der den Typus des slicken Doktors mit innerlichem Vakuum auf den Punkt bringt, bestechen Sienna Miller, Jeremy Irons und Elisabeth Moss auf jeweils eigene Weise. Mainstream-Darsteller Luke Evans, eigentlich eine Garantie für ödes Spektakelkino, überrascht als zorniger Antiheld aus der enttäuschten Mittelklasse und reißt öfter den Film an sich.

"High-Rise" mag, wie manche andere Filme der letzten Jahre, mit seiner Starbesetzung und seinem flott geschnittenen Trailer eine Mogelpackung für konventionell orientierte Kinobesucher sein. Meine Wenigkeit macht es glücklich, dass ein Leinwand-Rebell wie Ben Wheatley sich so ein extravagantes Experiment leisten kann, während rundum nur mehr Besucherzahlen regieren.

High-Rise

Thimfilm

"High-Rise"

In seinem nächsten Streifen wird der Brite dann, vom Produzenten Martin Scorsese geleitet, das Heistmovie-Genre hoffentlich subversiv unterlaufen. Der Thriller "Free Fire" hetzt Stars wie Cillian Murphy und Armie Hammer in einen Banküberfall, der in einem bitteren Überlebenskampf mündet. Amy Jump schreibt das Skript, Geoff Barrow von Portishead komponiert die Musik, es wird scharf geschossen, ich kann es nicht erwarten, im Mündungsfeuer von Ben Wheatley zu stehen.