Erstellt am: 7. 7. 2016 - 13:56 Uhr
Monster und Moneten
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Ich stehe vor der Servitenkirche im 9. Wiener Gemeindebezirk. Ein wildes Traumato erscheint. Ich bewerfe es mit Pokebällen, fange es und juble. Ein Passant wirft mir einen skeptischen Blick zu. Was soll’s - die 600 Erfahrungspunkte, die mir das neu gefangene Taschenmonster einbringt, hieven mich auf Level 9.
Foto: Christoph Weiss
"Pokémon Go" ist eines jener Videospiele, bei denen man an die frische Luft kommt. Produziert wurde es von der ehemaligen Google-Tochter Niantic, die mit Ingress seit dem Jahr 2013 das bisher beliebteste AR-Game betreibt. Niantics neues Spiel bedient sich eines der seit 20 Jahren erfolgreichsten Phänomene der Videospielgeschichte und könnte daher Ingress hinsichtlich seiner Popularität eines Tages übertrumpfen.
In "Pokémon Go" bewegt man sich, während man in der physischen Welt herumspaziert, auf einer Landkarte, die allen Ingress-Spielern bekannt vorkommen dürfte. Die sogenannten "Pokestops" entsprechen im wesentlichen den Ingress-Portalen - sie befinden sich also bei jenen Gebäuden und Monumenten, die in den vergangenen Jahren von Ingress-Spielern eingereicht wurden. Pokestops dienen als Quelle für Ressourcen wie Pokebälle, die man zum Fangen der Tiere benötigt.
In den Onlineshops von Google und Apple ist das (Gratis-)Spiel derzeit noch nicht erhältlich. Viele User haben die Android-Version von der Website APKmirror.com aus installiert. Die iOS-Version kann man herunterladen, wenn man über ein neuseeländisches, australisches oder US-amerikanisches Apple-Konto verfügt.
Gelb, Rot und Blau
Ein Erobern von Pokestops – analog zu den Portalen von Ingress – ist in "Pokémon Go" nicht erforderlich. Somit entfällt auch die taktische Komponente des Verbindens von Portalen zu Links und Feldern. Überhaupt ist die Spielmechanik von "Pokémon Go" einfacher gestrickt als jene von Ingress. Die Taschenmonster werden gefangen, indem man sie lediglich mit Pokeballs bewirft. An einigen besonderen Orten – Arenen, oder in der englischsprachigen Version Gyms – kann man gegen die Pokémons anderer Spieler antreten, um sie im Falle eines Sieges mit der Farbe des eigenen Teams zu markieren. Auch diese Kämpfe sind sehr simpel gestaltet: Man weicht aus, indem man am Touchscreen nach links und rechts streicht, und man greift ein gegnerisches Monster an, indem man es berührt. An die rundenbasierten RPG-Kämpfe der früheren Pokémon-Spiele erinnert dabei wenig.
Was "Pokémon Go" ebenfalls fehlt, ist ein integriertes Chatsystem. Aufgrund der Möglichkeit in Ingress, mit anderen Usern und Fraktionen via Text zu kommunizieren, habe ich bereits am ersten Tag mit zahlreichen Spielern meiner Fraktion Kontakt aufgenommen und einige auch bald auf der Straße getroffen – das Spiel wurde so von Anfang an zum Multiplayer-Erlebnis. Die ersten zwei Spieltage bei "Pokémon Go" hingegen waren eine einsame Angelegenheit.
Foto: Christoph Weiss
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Pay to win
Dafür hat Niantic gleich von Anfang an ein Feature in "Pokémon Go" integriert, das bei Ingress zumindest in den ersten beiden Jahren noch gefehlt hat: Einen Shop, in dem man sich für Euros Pokemünzen kaufen kann. Die Vorteile, die man sich dadurch im Spiel verschaffen kann, sind zahlreich: Lockstoffe erhöhen die Zahl der Pokémon auf der Straße ganz erheblich. Erweiterungen für den Rucksack erlauben das Aufsammeln von mehr Pokebällen. Glückseier verdoppeln eine halbe Stunde lang die Zahl an Erfahrungspunkten, die man erhält.
Foto: Christoph Weiss
Wer bereit ist, Geld zu investieren, ist klar im Vorteil. Im Gegensatz dazu sind bei Ingress jene User im Vorteil, die es verstehen, gut zu networken, und bereit sind, in Gruppen von acht oder mehr Spielern auf der Straße unterwegs zu sein.
Angesichts des Freemium-Bezahlmodells, aber auch der simplen Spielmechanik sowie der im Vergleich mit Ingress vereinfachten taktischen Komponenten stellt sich die Frage, warum man Zeit in "Pokémon Go" investieren sollte. Seinen Charme entfaltet das Game hauptsächlich aufgrund der japanischen Niedlichkeitsästhetik. Darüberhinaus bietet es Spielerinnen und Spielern eine weitere Möglichkeit, sich der Leidenschaft des Sammelns hinzugeben – es ist quasi ein virtuelles Panini-Sammelalbum mit Pokémon. Ich habe in den vergangenen Stunden erwachsene Menschen erlebt, die sich sehr darüber freuten, ein Glumanda oder Bisasam erhalten zu haben. Der Nostalgiefaktor trägt nicht unwesentlich dazu bei - wer erinnert sich nicht gern an vergangene Kindheitstage mit GameBoy & Co.
Mit Ingress haben Niantic und Google ab 2013 Milliarden von Datensätzen der Spielerinnen und Spieler gesammelt: Bewegungsprofile, Fotos, Kartendaten. "Pokémon Go" ist nun Niantics Versuch, die gesammelten Daten und die Idee des Smartphone-AR-Games zu einer gewaltigen Geldmaschine umzubauen. Ob man beim Spielen der Monsterjagd auch so viele Menschen kennenlernt wie bei Ingress, wird sich zeigen. Dafür, dass "Pokémon Go" wahrscheinlich einmal sehr populär sein wird, gibt es bereits erste Vorzeichen. Die Server des Spiels waren gestern Abend stundenlang stark überlastet.