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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

6. 7. 2016 - 13:42

Kuttelsuppe

Verlieren wir etwas, wenn wir gewinnen? Das ist die Frage, die sich viele Europäer nach dem Brexit-Referendum stellen. Ich stellte sie mir auch vorgestern.

Ich war für drei Tage in meiner Geburtsstadt Sofia. Ein halbes Jahr habe ich sie nicht besucht. Das musste natürlich gefeiert werden. Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg zu meinem Lieblingskuttelflecksuppenlokal. Die Kuttelflecksuppe, garniert mit viel Knoblauch und Chili, gilt als das beste Mittel für die Rückkehr der Normalität im Kopf nach einem versoffenen Abend.

Bulgarische Kuttelflecksuppe

wikipedia.org

Foto: Kiril Kapustin (CC BY 2.5, no changes)

Mit Akzent

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Mein Lieblingskuttelflecksuppenrestaurant befand sich in der Nähe der Schule, die ich besucht habe. Dort koexistierten schon immer Menschen aller sozialer Klassen: Bauarbeiter, Händler mit dicken Ledertaschen, zahnlose Roma, Schüler, ausländische Touristen, die die Exotik der Kuttelflecksuppe ausprobieren wollten, Damen in Stöckelschuhen, Straßenkehrer, alte Männer mit ihren Familien, verkaterte Säufer, die wieder zum Leben erweckt sein wollten, Bettler, die das Geld für die Suppe in ihren Fäusten zerdrückten, artistische Bohemiens, die sich laut über Stanislawski unterhielten, Geschäftsleute mit polierten Schuhen, alte Hippies mit Gitarren, Snobs, Minister, Anwälte, Bauern, die sich in der Großstadt verlaufen hatten – man konnte dort die gesamte bulgarische Bevölkerung finden.

Früher befand sich an dieser Stelle ein alter Busbahnhof. Der existierte schon lange nicht mehr, doch das Suppenlokal war noch immer da, Tag und Nacht offen. Ich habe es eigentlich nie geschlossen gesehen.

Genau dort wollte ich nun vor drei Tagen hin. Ich erreichte den Ort, aber statt meinem Lieblingsgeruch von Innereien und Knoblauch hieß mich ein kaltes Aluminiumgebäude willkommen. Meine Kuttelsuppenoase war verschwunden, versunken im Wandel der immer europäischer wirkenden bulgarischen Hauptstadt. Stattdessen stand jetzt dort eine Bankfiliale. Ich hatte nicht vor Geld abzuheben oder einzuzahlen und setzte mich auf die Stufen. Der Wächter der Bank forderte mich auf aufzustehen, um die Kunden nicht beim Eintreten zu hindern. Ich schaute in die Bank hinein – sie war menschenleer.

Zuerst wollte ich mit dem Security diskutieren, doch meine Streitlust ließ schnell nach. Auch er erinnerte sich genau daran, als an diesem Ort noch Suppe ausgeschenkt wurde. Ich fragte ihn, ob die Bankfiliale jetzt noch nach Knoblauch riecht. „Ja, wegen mir!“, sagte er lachend und erzählte, dass er vor seinem Dienst immer eine Kuttelsuppe isst. In einem anderen Lokal, gleich beim Gefängnis. Dieses Lokal sei immer voll. „Stell dir vor, du musst für zehn Jahre im Knast sitzen, du kommst raus und kannst keine gute Kuttelsuppe finden! Dann würdest du wieder rein wollen!“ Ich war, Gott sei dank, noch nie im Knast, aber das Gefühl, von dem er sprach, konnte ich mir vorstellen.

Ich stieg in die U-Bahn, gebaut mit EU-Geld. Alles war neu, glitzernd und schön. In ein paar Minuten erreichte ich das Gefängniss. Ich kam aus der Station und kostete die Luft der Freiheit. Es roch nach Kuttelflecksuppe.