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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

6. 7. 2016 - 12:08

Mein neues Leben als Abschaum

Neuerdings ist meinereins Faustpfand geworden. Die angeblich so besonnene Theresa May ist noch nicht im Amt und hat bereits unser Leben verändert. Nicht zum Besseren.

Ich setz mich an den Schreibtisch und hab noch genau eine halbe Stunde.
Es ist jetzt 10 Uhr 30 britischer Zeit, und um 11 wird der Chilcot Report über die Rolle der britischen Regierung in der Invasion des Irak 2003 erscheinen.

Dann werden Zweieinhalb Millionen Wörter auf ein paar Soundbites reduziert, und für den Rest des Tages wird man von nichts anderem mehr hören.

Aber bis dahin muss ich eben noch was loswerden hier.

Ihr werdet es vielleicht mitgekriegt haben, Leute wie ich und die anderen 3 Millionen EU-Bürger_innen in diesem Land wurden in den letzten Tagen de facto zum Faustpfand der kommenden Brexit-Verhandlungen erklärt.

Nach dem Rücktritt von Nigel Farage (der kommt wieder, keine Frage) und dem Schmollen von Boris Johnson (der sowieso) und der allzu offensichtlichen Selbstentblößung des Michael Gove als schlechtester Freund der Welt kämpfen derzeit Andrea Leadsom und die Innenministerin Theresa May um den Vorsitz der Tories und de facto um die Position der Premierministerin.

Warum in der Form ihrer Genitalien kein automatischer Triumph des Feminismus zu orten ist, diskutieren wir ein andermal, die halbe Stunde rinnt mir nämlich davon, und ich muss hier einmal kurz egoistisch über meine eigenen Rechte als Einwanderer reden, sorry.

Im Moment spielt sich nämlich genau jener unter Tory-Kandidat_innen so klassische Flirt mit dem jeweils anderen Flügel der Partei ab.

Leadsom, die Rechte, die unter Vortäuschung einer Karriere als Investment-Bankerin dem Brexit ökonomische Credibility gab und schon 2012 in einer Rede forderte, dass Angestellten von Kleinfirmen grundsätzlich alle Rechte auf Mutter- oder Vaterschutz, Kranken- und Urlaubsgeld entsagt werden (was ein EU-Austritt nun ermöglicht), befriedigt die menschelnde liberale Fraktion der Konservativen mit ihrer Garantie, das hier ansässige EU-Bürger_innen dieselben Rechte behalten werden wie zuvor.

May dagegen will keinerlei Versprechen dieser Art abgeben. Ihr Werk war die von mir hier schon einmal erwähnte, heuer in Kraft getretene Verordnung, dass Nicht-EU-Einwander_innen, die nach 6 Jahren nicht 35.000 Pfund im Jahr verdienen, automatisch abgeschoben werden (Krankenpfleger_innen ausgenommen).

Ein durch und durch barbarischer Paragraph, der den Beitrag, den jemand zum Leben in einem Land leistet, ausschließlich in dessen Fähigkeit zum Geldverdienen misst und als solches ein verlässliches Indiz für die Werte, die die angeblich so besonnene May vertritt.

Natürlich will sie erst einmal ihre Verhandlungsposition abstecken, und es besteht eine gute Chance, dass Leute wie wir 3 Millionen auch unter Theresa May hier weiter leben können wie zuvor.

Aber das ist gar nicht einmal der Punkt.

Was mich auf die Palme treibt, ist die Leichtfertigkeit, mit der diese künftige Premierministerin weiter die post-Brexit bedenklich spürbar gewordene Xenophobie schürt.

Laut Metropolitan Police hat sich die Zahl der im London gemeldeten xenophoben Hate Crimes seit der Abstimmung vor knapp zwei Wochen bereits verfünffacht.

Man sollte meinen, eine Innenministerin, die May immer noch ist, sollte sich mit sowas beschäftigen. Stattdessen fördert sie ihrer eigenen Karriere zuliebe noch die Aggression, indem sie EU-Einwander_innen de facto zu Einwohner_innen auf Bewährung macht.

Jeder schiefe Blick auf Leute, die in Fremdsprachen reden, jede auf der Straße gefauchte Beschimpfung des „Euro-Abschaums“ erhält dadurch ihre implizite Rechtfertigung.

Um es klarzustellen: Von den Zehntausenden beim March for Europe am Samstag über alle, die die Sicherheitsnadel an der Brust tragen, bis zu den Freund_innen, die auf sozialen Medien und im echten Leben Solidarität zu Migrant_innen bekennen, gibt es genug Grund, sich hier immer noch willkommen zu fühlen.

Graffiti EU Rats Go Home Now

Twitter PostRefRacism

Graffiti auf einem Health Centre in Torquay, wo EU-Einwander_innen Einheimische pflegen. Veröffentlicht auf dem wachsamen Twitter-Feed @PostRefRacism

Aber das Selbstbild Großbritanniens als weltoffenes Land, das irgendwann so in den mittleren 1990ern seinen Rassismus überwunden zu haben glaubte (und die aufgeflammte neue Aggression richtet sich übrigens gegen alle, die nicht britisch ethnisch weiß erscheinen, egal ob sie aus der EU oder sonstwo her kommen), ist in den letzten zwei Wochen, ja eigentlich schon in den Monaten des Wahlkampfs davor, einfach untragbar geworden.

Dieser Selbstbetrug muss einmal überwunden werden.

Denn am Ende ist selbst die so weitverbreitete Überzeugung, grundsätzlich weniger rassistisch und fremdenfeindlich als die Kontinentalen zu sein, schon ein Teil des Problems, ein Teil des vernagelten exceptionalism.

Der muss nun dringend raus aus den Köpfen, denn sonst könnte Großbritannien bald wie irgendeine kleine provinzielle Insel da drüben aussehen, die keiner braucht.

Die Verhandlungen mit der EU werden ein Klacks dagegen sein.

Sun Cover: Time to Mothball the EU

Robert Rotifer

Vor dem Referendum: Die größte britische Tageszeitung vergleicht EU-Einwander_innen indirekt mit Ungeziefern.

So, und jetzt ist meine halbe Stunde um, Chilcot spricht schon. Mehr demnächst.