Erstellt am: 5. 7. 2016 - 17:21 Uhr
Sex, Tod und urbane Entfremdung
Die erste literarische Begegnung meinerseits mit James Graham Ballard könnte man als durchaus heftig beschreiben. Sein berüchtiger Roman "Crash" erwischte mich in jungen Jahren mit der Wucht eines Auffahrunfalls.
Als strenger New-Waver, immer im amtlichen Schwarz gekleidet, hatte ich bereits transgressive Klassiker von so unterschiedlichen Autoren wie dem Marquis de Sade, von Georges Bataille oder William S. Burroughs verschlungen. Ballards schmales Buch fügte deren grenzüberschreitenden Sex-, Gewalt- und Drogen-Szenarien aber eine neue Facette hinzu: Eisige Technologie, die mit hitziger Erotik kollidierte.
Fine Line Features
"Crash" erzählt von einer Gruppe Fetischisten, die sich zunächst nur an Chrom und Stahl aufgeilen, die Ledersitze in teuren Limousinen erregend finden, bald aber Autounfälle als letztmöglichen Kick inszenieren. Seitenweise beschreibt Ballard Sex an der Grenze zur Verstümmelung und zum Tod, vermischt Sperma mit Blut und Motoröl zu einem verstörenden Cocktail.
Selbst wenn ein kulturkritisches Vorwort des Autors klarmacht, dass das Automobil bloß als sexuelles Sinnbild dient wie auch als Metapher für das Leben in der modernen Gesellschaft: Der Roman wird natürlich von vielen als perverser Hi-Tech-Porno in die Schmuddelecke gestellt. Zu fragwürdig sind für viele Ballards Sätze über die deviante Sinnlichkeit an der Grenze zur Spital-Intensivstation. Die Proto-Electroband The Normal lässt sich dagegen zum Underground-Hit "Warm Leatherette" inspirieren, die Industrialszene verehrt den Schriftsteller als Impulsgeber, David Cronenberg verfilmt "Crash" viel später als zutiefst beklemmenden Erotikthriller.
Fine Line Features
Moralist ohne Zeigefinger-Botschaften
"Crash" mag sein spekulativstes Werk sein, aber J.G. Ballards literarischer Blickwinkel produziert generell bewusst Missverständnisse, weil der britische Schriftsteller, der sich bis zu seinem Tod 2009 in zahlreichen Romanen den klaffenden Abgründen der Zivilisation näherte, die Interpretation stets zur Gänze dem denkenden Leser überlassen hat. Ballard forderte sein Publikum heraus und lieferte auch als bekennender Moralist niemals Zeigefinger-Botschaften mit.
Weltweit vermarkten lässt sich so eine Herangehensweise, gemischt mit einem relativ trockenen Stil, nicht leicht. Eigentlich hatte ich anlässlich der aktuellen Verfilmung seines vielleicht großartigsten Romans "High-Rise" mit einer deutschsprachigen Neuausgabe der Vorlage gerechnet. In heimischen Buchhandlungen findet man aber kaum etwas von J.G. Ballard, weder im Science-Fiction-Regal noch in der Abteilung für Weltliteratur, wo er eigentlich hingehört.
Harrt der Ausnahmeautor im deutschen Sprachraum seiner überfälligen (Wieder-) Entdeckung - die wenigen Werke, die gebraucht herumschwirren, datieren aus den mittleren 90er Jahren - sieht es in seinem Heimatland anders aus. In Großbritannien wurde das Adjektiv "Ballardian" sogar offiziell ins "Collins English Dictionary" aufgenommen, im Zusammenhang mit "dystopian modernity, bleak man-made landscapes and the psychological effects of technological, social or environmental developments". Man hört beinahe das Flackern kaputter Neonröhren in desolaten Fußgängerunterführungen, wenn man das liest, sieht zerklüftete Satellitenstädte vor dem geistigen Auge, spürt das Donnern des endlosen Verkehrsstroms zu den Stoßzeiten, denkt an gerötete Augen, schlaflose Nächte und zittrige Hände.
Thimfilm
Im grausamen Reich der Sonne
James Graham Ballard wird 1930 in Shanghai geboren, weil sein Vater dort die Niederlassung einer britischen Textilfirma leitet. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor besetzen Japaner die Siedlung und internieren die alliierten Zivilisten. Zwei Jahre lang, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, wird der Bub mit Erniedrigungen, Hinrichtungen und Leichenbergen konfrontiert, erlebt die ganze Palette menschlicher Grausamkeiten.
Ballard versucht später, so erzählt er in Interviews, die Kindheit im Straflager zu verdrängen, aber der Schrecken hat sich in jede Faser seiner Existenz eingebrannt. Er verfasst 1984 einen autobiografischen Roman über diese Zeit, "Empire Of The Sun". Steven Spielberg verfilmt das Buch eindringlich, aber auch rührselig, mit einem blutjungen Christian Bale in der Hauptrolle.
Sentimentalität findet sich in keinem der zahlreichen Werke des J.G. Ballard., die er ab den frühen Sechzigern verfasst. Dort regiert die Nüchternheit, die Eiseskälte, vor allem bestechen die Bücher und Kurzgeschichten-Sammlungen mit einem visionären Blickwinkel auf das Leben, auf unser aller Miteinander und darauf, wie Fortschritt und Technologie menschliche Befindlichkeiten verändern. Alleine die Titel beeinflussen schon Legionen von Bands und Filmemachern, von Nicolas Roeg über David Cronenberg, von Primal Scream bis Radiohead: "The Drowned World", " The Atrocity Exhibition", "Super-Cannes", "Kingdom Come".
Splendid Film
Höhlenmenschen im Horror-Hochhaus
James Graham Ballard wird als Autor, zurückgezogen in einem Londoner Vorort lebend, zu einer zentralen Figur der dystopischen Science-Fiction. Das Genre und seine Klischees lässt er aber irgendwann hinter sich, die Anti-Utopie bleibt als Thema. In den mittleren 70er Jahren entstehen besonders irritierende, faszinierende, prophetische Romane wie der erwähnte "Crash", "Concrete Island" (Die Betoninsel) oder eben "High-Rise" (Das Hochhaus).
Ballards eigenwillige Arbeiten für das Kino zu adaptieren erweist sich als schwierige Angelegenheit. Nachdem etliche Regisseure im Vorfeld ausschieden, wagt sich jetzt der britische Genre-Rebell Ben Wheatley an den Schlüsselroman "High-Rise". Im Mittelpunkt steht ein Hochhaus-Turm als soziale Wohnutopie, wo Mittelklasse-Bürger und Reiche abgeschirmt von der Außenwelt leben.
Thimfilm
Natürlich scheitert in Buch und Film das isolierte Miteinander im Luxus-Hochhaus katastrophal. Spannungen eskalieren, Anarchie bricht aus, bald ziehen die Einwohner wie wilde Höhlenmenschen durch das Gebäude und bekriegen sich. Ben Wheatley inszeniert eine Horror-Orgie der Bilder und Körper, eine Art teuren Experimentalfilm mit Superstars wie Tom Hiddleston, über den es an dieser Stelle bald Ausführliches zu lesen gibt. Jedenfalls bleibt die Grundidee des Romans intakt: Unter unseren Schichten von Konditionierung und Aufklärung schlummert die Bestie. James Graham Ballard, der messerscharfe Science-Fiction-Psychologe, wusste das von Kindheit an.