Erstellt am: 5. 7. 2016 - 11:26 Uhr
Die Zukunft gestohlen
Es war genau vor einem Jahr, als Europa geschockt nach Griechenland blickte, als die BürgerInnen im Referendum entschieden hatten, sich gegen die von den Gläubigern vorgeschlagene Vereinbarung zum Spar- und Reformprogramm zu stellen. Fast 62 Prozent wählten damals oxi, also nein zu der von den Gläubigern diktierten Sparpolitik. Und das obwohl sowohl im Inland, als auch im Ausland gewarnt wurde, dass eine Ablehnung der Vereinbarung zu einem Rauswurf des Landes aus der Eurozone führen könnte. Durch die Wahlen im September 2015, die die Linke wieder gewonnen hat, konnte die Regierung ihre Politik legitimieren, betont Giorgos Tzogopoulos, Analyst in der Hellenischen Stiftung für Europäische Politik und Außenpolitik (ELIAMEP). Trotzdem sind die Menschen im Land verwirrt. "Sie haben nicht verstanden, warum das Referendum stattgefunden hat, denn es wurde etwas völlig anderes umgesetzt, als das, was sie gewählt haben". Die linksgerichtete Regierung von Alexis Tsipras hat fast nichts umgesetzt, was sie den BürgerInnen versprochen hat, bevor sie an die Macht kam, meint der Analyst. Sie hat unter anderem zwar den Schwächeren unter die Arme gegriffen, indem sie Mietzuschüsse und kostenlose Stromversorgung angeboten hat, doch die Zahl der Menschen, die verarmen, nimmt ständig zu.
Salinia Stroux
Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei mehr als 24 Prozent. Jeder zweite junge Mensch ist derzeit ohne Job. Es sei schwierig, Investitionen anzulocken, da das Vertrauen an die politische Elite des Landes fehle, meint der Analyst. Diese Woche reiste Tsipras nach Peking, um die Beziehungen zwischen beiden Ländern auszubauen. Griechenland hat vor ein paar Tagen wieder Hilfskredite aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus erhalten und kann auf weitere Erleichterungen hoffen.
Das Ergebnis des Referendums in Großbritannien könnte aber negative Folgen für das Land haben. "Ein Tabu ist gebrochen, nämlich, dass kein Mitglied die Union verlassen darf. Die Gläubiger könnten jetzt leichter ein Austritts-Szenario Griechenlands aus der Eurozone akzeptieren, damit Länder des Südens wie Italien, Spanien und Portugal die Regelungen beachten", fürchtet Tzogopoulos. Von einem Gesetz für wirtschaftliches Wachstum und Investitionen erhofft die griechische Regierung die Überwindung der langjährigen Krise. Gefördert werden sollen vor allem Investitionen in die Infrastruktur, sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze und "gerechtes Wachstum". All dies soll in den kommenden fünf Jahren geschehen. Das neue nationale Ziel sei, dass Griechenland bis 2021 zur Normalität zurückkehre, so Ministerpräsident Alexis Tsipras. Die Regierung will noch das Wahlgesetz ändern und eine Verfassungsreform verabschieden.
Doch die Stimmung in Griechenland ist schlecht. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich betrogen. Einer Wahlumfrage des Instituts Kapa Research nach dem Abschluss der ersten Inspektion der Kreditgeber Mitte Juni zufolge hat sich zwar der Rückstand der Regierungspartei Syriza (17,3 Prozent der Stimmen) auf die konservative Partei Nea Demokratia (20,8 Prozent) mittlerweile verringert, trotzdem führen die Konservativen seit Monaten in Umfragen. Mehr als 60 Prozent der Befragten bewerten den Abschluss der Inspektion als positiv und die Mehrheit ist gegen Neuwahlen; 52,6 Prozent meinen, man solle der Regierung Zeit geben. In einer anderen aktuellen Umfrage haben die Konservativen einen zweistelligen Vorsprung. 86 Prozent der Befragten ist nicht zufrieden mit den Leistungen der Regierung, 68 Prozent gehen davon aus, dass die Lage noch schlimmer wird und 63 Prozent, dass das Referendum vergangenen Jahres dem Land geschadet hat.
Salinia Stroux
Nach der Inspektion gab der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) die lang ersehnte nächste Kredittranche in Höhe von 7,5 Milliarden Euro an Griechenland frei. 5,7 Milliarden Euro sollen für die öffentlichen Schulden aufgewendet werden, die restlichen 1,8 Milliarden für die Begleichung inländischer Zahlungsverpflichtungen. Weitere 2,8 Milliarden Euro sollen ab September ausgezahlt werden - aber nur, wenn die griechische Regierung eine Reihe an Bedingungen erfüllt, also weitere harte Sparmaßnahmen und umstrittene Reformen vornimmt, darunter eine Arbeitsmarktreform. Aus Brüssel kommen mittlerweile ermutigende Worte. Griechenland sei in der Finanzkrise bereits "über den Berg", sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor ein paar Tagen in Athen.
EU-Währungskommissar Pierre Moscovici sagte in einen Interview, dass das Hilfsprogramm ein Erfolg sei und das Vertrauen [an Griechenland] wachse. Ein Grexit sei komplett vom Tisch.
Griechenland hofft auch auf Geld aus dem sogenannten Juncker-Plan, der vorsieht, dass in der EU bis zum Jahr 2018 mit Hilfe eines Fonds öffentliche und private Investitionen von etwa 315 Milliarden Euro angestoßen werden. Über eine Schuldenerleichterung soll wohl erst ab 2018 diskutiert werden, nach den Wahlen in Deutschland und Frankreich.
Zudem hat die Europäische Zentralbank entschieden, die griechischen Banken ab Ende Juni wieder günstiger zu refinanzieren und die Ausnahmeregelung für griechische Staatsanleihen, die sie kurz nach dem Amtsantritt von Tsipras Regierung im Jänner 2015 ausgesetzt hatte, wieder in Kraft zu setzen. Die Prognosen für die griechische Wirtschaft sind jedoch schlecht. Nach Einschätzung der Zentralbank in Athen wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um 0,3 Prozent zurückgehen. In ihrem Vorausbericht für das laufende Jahr schreibt die Bank von Griechenland, dass der Schuldenberg schrittweise abgebaut wird und das Ziel eines primären Haushaltsüberschusses (ohne Schuldendienst) von 3,5 Prozent bis zum Jahr 2018 auf zwei Prozent korrigiert werden müsse, damit Wachstum erreicht werden könne.
Salinia Stroux
"Diese Regierung hat Versprechungen gemacht, die sie gar nicht erfüllte, und genau das Gegenteil umgesetzt. Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, von den Politikern betrogen zu werden", meint eine 38jährige arbeitslose Griechin in Athen, die anonym bleiben will. Voriges Jahr, beim Referendum, hat sie gegen die Sparpolitik gestimmt und war enttäuscht, wie schnell die Regierung unter dem Druck der EU ihre Linie änderte und sich mit den Gläubigern auf neue Sparmaßnahmen verständigte. Sie hat Anfang des Jahres ihren Teilzeitjob in einem Callcenter verloren und lebt jetzt vom Arbeitslosengeld: 360 Euro monatlich - genauso viel, wie sie in ihrem vorigen Job verdient hatte. Sie lebt in einer kleinen Wohnung in Athen, die ihr gehört. "Ich kann gerade die Rechnungen zahlen und Lebensmittel einkaufen, sonst nichts. Ich überlege, Ende des Jahres, wenn ich kein Arbeitslosengeld mehr bekomme, auszuwandern", sagt sie. Laut einer aktuellen Studie der griechischen Zentralbank sind seit 2008 fast 430.000 GriechInnen ausgewandert.
In der Nachbarschaft der arbeitslosen Frau stehen mehrere Geschäfte leer. Vor den Schaufenstern haben Obdachlose kleine improvisierte Unterkünfte aus Plastik und Holz gebaut. Auf den Straßen Athens sieht man immer mehr junge Menschen betteln. In einem Park im Zentrum von Athen sucht Pensionistin Tasia Schatten, um sich vor der Hitze zu schützen. Sie hat 36 Jahre lang in einer Fabrik gearbeitet und bekommt gerade 530 Euro Pension. Sie fürchtet weitere Kürzungen wegen der Sparmaßnahmen. Mehrere RentnerInnen haben vor kurzem bereits weniger Rente bekommen, weil sie den Anspruch auf den Sozialausgleich EKAS verloren haben.
Im Referendum hat sie mit oxi gestimmt - sich also gegen die Vereinbarung mit den Gläubigern gestellt. Die Rentnerin meint, dass auch die Opposition die Verantwortung für den harten Sparkurs trägt: "Die Sozialisten von PASOK und die Konservativen von Nea Demokratia haben auch für das Sparmemorandum gestimmt. Warum meckern sie jetzt?"
Salinia Stroux
Katerina, eine junge Privatangestellte, hat bei dem Referendum für die Sparmaßnahmen gestimmt - aus Angst, Griechenland würde aus der Eurozone fliegen. Das Referendum ist jetzt für sie nichts mehr als eine schlechte Erinnerung. "Danach hat die Regierung ein Abkommen mit schlechteren Bedingungen bekommen. Es wäre besser, wenn keine linke Regierung an der Macht wäre, um sich diese Enttäuschung nach dem Referendum zu ersparen. Damit wir noch die Hoffnung hätten, dass es eine andere Lösung gäbe..."
In einem Lebensmittelladen diskutieren zwei Kleinunternehmer die Entwicklungen in Großbritannien und die Lage der griechischen Wirtschaft. Die Tatsache, dass es immer noch Kapitalverkehrskontrollen gibt, erschwert ihr Geschäft. "Es war eine Katastrophe, und ich glaube, dass die Kapitalkontrollen nie aufgehoben werden. Wir Unternehmer suchen nach Möglichkeiten, zu bezahlen und bezahlt zu werden", sagt Dimitris, ein 50jähriger Händler. Immer mehr Unternehmen machen dicht oder verlegen ihre Firmensitze ins Ausland.
Die Finanzkrise und der starke Rückgang des Konsums haben auch die Supermarktkette Marinopoulos getroffen die mehr als 12.500 Menschen beschäftigt. Ende Juni hat das Unternehmen Konkursschutz beantragt.
Die Regierung plant, die Kapitalverkehrskontrollen demnächst zu lockern, so Medienberichte. Dimitris erwartet nichts davon. Er werde bald seinen Laden schließen, weil er nur noch Ausgaben habe und keine Einnahmen. Er meint, dass die griechische Regierung keinen politischen Willen habe, den Kleinunternehmern zu helfen: "In Griechenland wird ein Programm befolgt, das den menschlichen Faktor nicht berücksichtigt. Es wird nicht darauf geachtet, wie es den Menschen geht und was auf dem Markt passiert." Sein Freund, ebenfalls Händler, stimmt zu. Sein Geschäft befindet sich im Zentrum der Athener Innenstadt. Trotzdem kommen immer weniger Kunden. Gegen diese Umstände könnten er und die anderen Bürger nichts mehr machen, sagt er deprimiert: "Die Griechen haben keine Kraft mehr zu protestieren. Sie gingen die letzten sechs Jahre immer wieder auf den Straßen. Jetzt reagiert niemand mehr. Jetzt geht es ums Überleben. Uns wurde die Zukunft gestohlen."
Salinia Stroux
Die große Enttäuschung hat in der Bevölkerung zu einer Lähmung geführt. "Wir erleben derzeit einen Rückgang der sozialen Kämpfe - trotz wichtiger Protestaktionen, die verstreut stattfinden", sagt der Politologe und Vorsitzende des Meinungsinstituts Public Issue, Giannis Mavris.