Erstellt am: 4. 7. 2016 - 13:40 Uhr
Roskilde Festival 2016
1.820.000.000 Schritte geht das Festivalpublikum während des einwöchigen Roskilde-Festivals am Gelände spazieren. Von den Bühnen zum Food Court zu den Toiletten zum Campingplatz und wieder retour.
FM4 Festivalradio
Die besten Open-Air-Konzerte, die schönsten Live-Gigs. So schaut dein Musiksommer aus.
Den Ernst der Lage und den Grad der Vorbereitungen merkt man bei einem Festival dieser Größenordnung also vielleicht an den Schuhen. Ich hatte mich für vier Paar entschieden: Flipflops für die Dusche, die "bequemen" Schuhe, die "festeren" Schuhe und die Gummistiefel. Diese hatten nach zwei Tagen Bühnenwanderungen an den Seiten Risse, also blickte ich traurig allen nach, die das Gelände in bunten Gummistiefeln umrundeten und es bis zur "weiten" Bühne geschafft haben.
Die war aber eigentlich gar nicht so weit. Wer von der Hauptbühne, der Orange Stage, einmal im Kreise geht, kommt bei allen Bühnen vorbei. Eigentlich. Aber Festivallogik ist halt eine ganz eigene, sagen wir mal spezielle.
Amanda Loughrey
Das dänische Festival ist in den frühen Morgenstunden des Sonntags zu Ende gegangen. Am letzten Festivaltag liest man in "Orange Press", der Festivalzeitung, die während dem Festival über die Konzerte und das Leben auf dem Festivalgelände berichtet, von dieser horrend großen Schrittanzahl, die es braucht um das Festival "zu erleben".
Eines der letzten Konzerte war das der Sleaford Mods, die bei ihrer Anreise schon verlautbart haben:
Bloke on the plane told me Denmark reported to be the happiest country in the world. I said it won't be in a few hours.
— Sleaford Mods (@sleafordmods) 2. Juli 2016
Grund zum Glücklichsein haben die Sleaford Mods in diesen Post-Brexit-Tagen nicht sehr viel. Ihr Punk-Techno-Konzert kommt ohne viel Bühnentechnik aus und ist wohl der Traum jedes Stage Managers: zwei Männer, ein Mikro, ein Laptop. Dosenbier. Einfacher geht es nicht. Auch für die Musiker selbst nicht, die sich während dem Konzert gut und gerne auch mal einen Blick aufs Handy gönnen dürfen. Die Welt steht noch? Ja, aber nicht mehr lange.
Das letzte Konzert des Festivals, also den Auftritt der Sleaford Mods, hab ich ausgelassen. Ich sag ja, Festivallogik ist so eine Sache. Man glaubt die Band spielt dort, wo man gerade hingeht, nur um anzukommen und zu merken, jetzt müsste man noch irgendwo anders hinlaufen. Wo man aber auch nicht mehr weiß ob man dort zeitgerecht ankommt. Auf Festivals gibt es nur eines, das schlimmer ist als ein Konzert nur mehr durch den Schluss-Applaus zu erleben: Löcher in den Gummistiefeln.
LCD Soundsystem
Das Bühnensetting schaut gemütlich aus. James Murphy im Kreise seiner Mitmusiker, so stellt man sich den Aufbau einer Band im Proberaum vor. Mit einer Pirouette hat man schon Blickkontakt mit allen Bandkollegen genossen. Auch im Bereich der ersten Reihen geht es familiär und rund zu. Wer des Klatschens nicht mehr mächtig ist, fällt den Freunden einfach um den Hals.
Ein besonders euphorischer Besucher, der anscheinend schon alle um ihn herum tanzenden Freunde und Unbekannte abgeknutscht und umarmt hat, entscheidet sich bei "Home" für folgenden Akt der Ekstase: Er nimmt sein Handy in die Hand, nimmt den Rückendeckel ab und lässt den Hinterteil seines Mobiltelefons in die Luft fliegen. "It won´t get any better until the night!", lassen LCD Soundsystem die Menge wissen, während mein Tanznachbar mit dem entblößten Handy zum Kuhglocken-Solo auf und ab hüpft. Er wird den Handydeckel nicht mehr finden und vielleicht auch nicht mehr brauchen.
Festival-Menschen
Das Beste an Festivals sind die Menschen. Die drei Freunde in perfekter Wanderausrüstung, die bei Biffy Clyro ihre Luftgitarren-Soli üben und sich nur mehr nickend darüber verständigen, dass ihre Lieblingsband da oben gerade das beste Konzert abliefert. "Somebody help me sing. Whoooaaa-oh-ohooh."
Die beiden Zeltkollegen, von denen der eine zu James Blake will und der andere den Arm um ihn legt und meint "No, you´re going to see Skepta with me".
Die paar Engländer, die zwei Stunden lang davon reden, jetzt doch bitte endlich aufstehen zu müssen um sich rechtzeitg für M83 einen guten Platz zu sichern. Die schöne Frau mit den Hot Pants aus blauem Plüsch, die beim Konzert von Officerfishdumplings von rechts nach links wandert um ihre Freunde ausfindig zu machen. Bis sie aufgibt und ihren Blick auf der Bühne ruhen lässt um sich auf die Musik zu konzentrieren. Die zwei Festivalfreundinnen neben ihr, die bei ihrem Schuhwerk auf Socken verzichtet haben und stattdessen Mülltüten tragen und in ihrem Ausdruckstanz versuchen nicht auf den hinausstehenden Sackerlteilen auszurutschen.
Officerfishdumplings ist vielleicht der blödeste Bandname am Lineup gewesen, aber dafür die beste Entdeckung am Festival. Der in New York lebende marrokanische Musiker sampelt Musiken seiner Landsleute, die er in ehrwürdiger Field-Recording-Tradition bei seinen Reisen gesammelt hat und remixt diese in Ton und in Bild.
Das klingt ziemlich umwerfend für einen Nachmittagsslot:
Am Roskilde Festival ist sowohl Crowdsurfing verboten als auch das auf den Schultern tragen. So kann jeder einen guten Blick auf die Bands werfen ohne mit Füßen getreten zu werden. Beim Konzert der Last Shadow Puppets machen sich ein paar Freunde einen Spaß daraus es trotzdem auszuprobieren, um zu sehen wie lange es dauert bis ein Ordner einen wieder nach unten weist. Man gibt allerdings gemeinsam auf und konzentriert sich wohl auf das lautstarke Mitsingen und Anhimmeln. Alex Turner und Miles Kane sind schließlich die perfekten Projektionsflächen dafür. Zeitweise hat man das Gefühl, man steckt in einer Audition für sowohl den Bond-Soundtrack als auch den Bond-Darsteller.
Wenn das Streicher-Quartett nicht wäre, wäre es musikalisch recht langweilig ausgefallen. So gewinnt die Performance an einer Größe, die nur mehr durch Alex Turner´s "Larger than Life"-Bühnen-Manierismen getoppt werden kann. Man weiß zwar nicht ob er betrunken ist oder einfach nur schauspielert, aber die Musik lässt einen vergessen, dass man knapp davor ist sich so schlecht wie bei einem Verkehrsunfall zu verhalten: nämlich mit offenem Mund zu gaffen "was da denn passiert sei".
Den Job haben sie richtig gemacht, denn ich kann's kaum erwarten, sie am FM4 Frequency Festival nochmals zu sehen. Wenn sich das mit der Feinwäsche auf Tour ausgeht, wird ja einer der Last Shadow Puppets vielleicht wieder ein Hemd im Leopardenmuster tragen. Ihre weißen Schuhe waren zwar nicht festivaltauglich aber meine Gummistiefel ja auch nicht wirklich.