Erstellt am: 3. 7. 2016 - 12:59 Uhr
Am schönsten Dorffest der Welt
Nicht weit vom Bodensee liegt die Stadt St. Gallen, die dieses Wochenende das Zentrum der Schweizer Musikwelt ist: Seit 1977 findet dort das OpenAir St. Gallen statt, ein Festival, das bereits in der Vergangenheit mit einem ganz schön ordentlichen Line-Up punkten hat können. Auch dieses Jahr ist das nicht anders: Neben Acts wie Casper, Fettes Brot, Deichkind, Mumford & Sons und Two Door Cinema Club spielten dort gestern auch Radiohead. Und das heißt schon einiges, wenn man sich den eher kurz gehaltenen Tourplan der Band ansieht.
Was ist das aber für ein Festival dieses OpenAir St. Gallen? Was macht es so einzigartig? Vor Ort sind sich die Besucher natürlich einig, dass es einfach das beste, unterhaltsamste und schönste Festival ist. Aber das sind ja auch Leute, die teilweise schon seit über zwanzig Jahren dorthin kommen. Ein paar Besonderheiten, die dieses Open Air auszeichnen, fallen aber schon beim ersten Schritt durch die Eingangstore des Festivals auf.
Christoph Sepin / Radio FM4
Wie ein gigantisches, natürliches Amphitheater präsentiert sich die Location, ein Becken in der Landschaft, zwischen Wäldern und Kuhweiden gelegen. Zentral ganz unten in der Mitte stehen die beiden großen Bühnen des Festivals, die Merchstände, Bars und Imbissbuden. Rundherum haben sich die Leute in Zelten angesiedelt. Das Open Air trennt nämlich nicht zwischen Zeltplatz und restlichem Festivalareal, fast bis ganz zur Hauptbühne herunter breiten sich die Zelte und Schlafplätze aus.
Das präsentiert sich dann alles so, wie eine Art alternative Realität, in der in einer postapokalyptischen Welt tausende junge Menschen ihre eigene Zivilisation aufgebaut haben. Wo man sich noch keine Gedanken über den Aufbau eines konkreten politischen Systems macht, sondern erstmal feiert. Eine temporäre autonome Zone, wie sie im Buche steht. Und das fühlt sich dann in der Praxis ein bisschen so an wie ein bombastisches Dorffest. Auf dem es statt Autodrom und Riesenrad halt Bands zum Anschauen gibt.
Christoph Sepin / Radio FM4
Die werden trotz all dem Drumherum und den alkoholangetriebenen Ablenkungen glücklicherweise von den Festivalbesuchern nicht ignoriert. Am Freitag finden sich schon am Nachmittag zahlreiche Leute vor der Bühne ein, das Line-Up hat es schließlich verdient. Um 17 Uhr spielen die erstklassigen Wolf Alice dort, ihre dritte Show in der Schweiz, wie sie mir vorher erzählen. Gerade haben die Briten noch am Glastonbury Festival gespielt, jetzt bieten sie ein herrliches Schauspiel zum Anjubeln und Mittanzen.
Je später der Abend wird und je tiefer die Sonne über dem Open Air-Tal hängt, desto voller wird es auch vor der Bühne. Zuerst bei Years & Years (noch eine Band, die wie Wolf Alice direkt von der BBC Sound of 2015-Liste zum OpenAir St. Gallen kommt) und dann bei Two Door Cinema Club. "Das Schweizer Publikum ist entspannt, aber gleichzeitig voller Energie", erzählt mir Leadsänger Alex Trimble kurz vor der Show. "Sie heißen alle Arten von Bands willkommen. Und das ist eine super Qualität für ein Publikum."
Two Door Cinema Club werden mit offenen Armen empfangen, auch die Lichtshow der Band hält, was Trimble davon versprochen hat und umringt die Musiker mit "2001: A Space Odyssey"-Monolithen. Nur gegen Ende der Show scheint das Publikum zu vergessen, wer da denn jetzt wirklich auf der Bühne steht und beginnt spontan "Seven Nation Army" zu grölen.
Nach dem Two Door Cinema Club spielt es erstmal das "Indiana Jones"-Thema als kleinen Interlude, dann kommt Casper auf die Bühne, nicht im Asche- sondern im Konfettiregen. Und der hat das Publikum von der ersten Sekunde voll in der Hand. Da wird richtig ordentlich herumgesprungen, mitgesungen, gegrölt und gefeiert. Folgende Dinge sieht man während des Casper-Konzerts übrigens in der Luft: Luftballons, ausgestopfte Einhörner, Hello Kitty-Fahnen, Seifenblasen, Becher, Glowsticks und eine Gießkanne. Danach geht die Party noch mit Deichkind und an den Bars rund um die Bühne herum bis in die frühen Morgenstunden weiter. Schlafen gehen sollte man aber trotzdem mal, am nächsten Tag spielt schließlich Radiohead.
Christoph Sepin / Radio FM4
Auf die Sonne folgt der Regen
Der Samstag beginnt festivaltypisch regnerisch und damit schlammig. Besonders schön ist hier, dass die Leute ihre verdreckten Gummistiefel sogar vor dem Einkaufszentrum um die Ecke ausziehen, um nicht den ganzen Festivalschlamm in die echte Welt zu tragen. Der Regen und der Schlamm, so wird mir übrigens versichert, der gehört einfach dazu zum Festival. Die Lösung des Problems ist, wie so oft an diesem Wochenende, einfach mal ein Bierchen zu trinken. Dann stört der Regen auch nicht mehr, sagt man.
Christoph Sepin / Radio FM4
Bands spielen aber trotzdem noch am Samstag: Refused gibt's zum Anschauen und AnnenMayKantereit. Vor Radiohead spielen noch Caribou, die das ideale Hypekonzert vor dem Headliner geben. Das ist eingängig schöne Tanzmusik, zu der man sich hier im Schlamm aufwärmen kann, im Mittelpunkt steht aber das Warten auf den großen Hauptact des Abends.
You're so fucking special
Katharina Seidler über Radiohead am Primavera Sound Festival 2016.
The house that "Creep" built: Radiohead beim ausverkauften Primavera Sound Festival 2016.
Radiohead präsentiert sich dann wie erwartet als die Band des Hinauszögerns, die minutenlang herumteased, mit Lichtern und Drohnensounds herumblitzt, bevor sie dann endlich zu "Burn The Witch" auf die Bühne kommt. Tracks vom neuen Album gibt es erstmal reichlich, bevor man sich langsam durch die eigene musikalische Geschichte tastet. Der tiefe Bass, der ständig wummernde Begleiter an diesem Wochenende am Open Air, setzt jetzt erstmal aus. Darum geht's jetzt nicht mehr, sondern um die Reise durch die Emotionen, wie schon bei den letzten Konzerten von Radiohead während dieser Tour.
Die Melancholie steht da im Mittelpunkt, das Versinken im Sound, in der Elektronik und in der Bedeutung von dem, was Radiohead war und ist. Und wie das heutzutage klingen soll. So einfach ist das aber alles nicht und das bemerkt auch das Publikum irgendwie. Hits werden auch gespielt: "No Surprises" gibt's zu hören und eine unglaublich großartige Glitch-Version von "Idiotheque". Spätestens das ist dann der Moment, wo die Euphorie überwiegt. Wo die Menschen anfangen so richtig im Schlamm mitzutanzen, mitzusingen und Thom Yorkes Tanzbewegungen nachzuahmen.
OpenAir St. Gallen
Das ist ein ganz großer Abend an dem wir uns hier befinden, der dann mit zwei Zugaben und zwar nicht mit "Creep" aber dafür mit "Karma Police" beendet wird. Was aber eh passender ist, als Abschluss dieses Wochenendes: "For a minute there, I lost myself", singt Thom Yorke und das Publikum singt mit. Denn irgendwie ist uns das allen so ergangen, am OpenAir St. Gallen, für ein Wochenende, das sich im Nachhinein anfühlt wie eine Minute.