Erstellt am: 29. 6. 2016 - 16:12 Uhr
Nach dem Anschlag auf den Atatürk-Flughafen
Normalisierung stand in der Türkei in den letzten Jahren selten auf dem Programm. Umso größer waren die Hoffnungen, als die Türkei in den vergangenen Tagen gleich mit zwei verfeindeten Ländern das Kriegsbeil begraben wollte: Ein neues Abkommen mit Israel und die Annäherung an Russland sind die größten außenpolitischen Umbrüche der letzten Jahre. Der neue Ministerpräsident kündigte auch Gespräche mit Ägypten an und selbst in der Syrien-Politik soll es hinter verschlossenen Türen zu einem Umdenken kommen.
Die neuen radikalen Schachzüge in der viel kritisierten Außenpolitik sind nicht zuletzt eine Reaktion auf die wachsende Unsicherheit im Land. Stabile Partnerschaften in der Region könnten sogar einen neuen Friedensprozess mit der PKK möglich machen. Den gestrigen Anschlag auf den Atatürk-Flughafen in Istanbul konnten sie nicht verhindern.
APA/AFP/OZAN KOSE
Wer steckt dahinter?
Auf die Frage gibt es nach jedem Anschlag zahlreiche Antwortmöglichkeiten. Gleich mehrere Gruppen führen eine Art Krieg gegen die Türkei, aber sie alle haben ihre eigene Handschrift. Der gestrige Anschlag erinnert an den Terrorangriff auf den Flughafen von Brüssel. Sicherheitsexperte und ehemaliger Armeeoffizier Mete Gürcan twitterte die ersten konkreten Vermutungen.
An ISIS-inspired Turkish cell including guys from Central Asia responsible for airport attack.1 captured alive, 3 killed, 3 missing out of 7
— METIN GURCAN (@Metin4020) 28. Juni 2016
Das passt ins Muster. Denn obwohl die Regierung in den vergangenen Monaten immer wieder Anschläge dem IS zugeschrieben hat, bekennt sich die Gruppe nie zu den Attentaten. Während sie sich im Westen auch zu Anschlägen bekennt, die sie nicht selbst geplant hat, agiert die Gruppe in der Türkei anonym. Das erinnert an die frühe Taktik des IS im Irak. Dort verübte die Terrormiliz jahrelang anonyme Anschläge um einen konfessionellen Krieg zu erzwingen. In der Türkei gibt es zwar keine großen Glaubenskonflikte, aber das Land ist tief gespalten. Seit vierzehn Jahren regiert die AKP mit Recep Tayyip Erdoğan an ihrer Spitze. Die Fronten sind verhärtet wie nie zuvor.
It is moments like this when I survey Turkish tweets that I am glad that not many outsiders speak Turkish.. Depressing reactions
— Ziya Meral (@Ziya_Meral) 28. Juni 2016
Im Social Media werden die Konflikte noch unerbittlicher ausgetragen. Auf Twitter waren gestern Nacht die weltweiten Trends dominiert von türkischen Hashtags. Es waren aber weniger Solidaritätsbekundungen, sondern mehr ein Bürgerkrieg mit Tweets. Auf Ekşi Sözlük, dem türkischen Hybrid aus Reddit und Urban Dictionary, bekam das Topic „Was macht ihr an dem Tag, an dem Erdoğan stirbt?“ binnen Stunden hunderte neue Einträge. Feiern, Saufen und Schafe opfern sind die Antworten.
Was macht die Regierung?
Das letzte Jahr war von angeheizten Wahlkämpfen geprägt. Die erhoffte Ruhe für dieses Jahr kommt nicht und die Regierung gerät immer mehr in die Kritik. Sicherheitspolitisch sind die Angriffe ein Desaster und wie gravierend der Schaden für die Wirtschaft sein wird, lässt sich nur erahnen. Klar ist schon jetzt, dass der Tourismus, eine der wichtigsten Einnahmequellen der Türkei, dieses Jahr komplett ausfällt. Die Annäherung an Russland wird wohl nicht mehr reichen, um in dieser Saison die russischen Touristen wieder in die Türkei zu locken. Und nach dem gestrigen Anschlag werden ohnehin die letzten Buchungen storniert worden sein.
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Kurzfristig kann die Regierung so reagieren, wie bisher. Sicherheitspolitik hat oberste Priorität. Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit werden darunter weiter leiden. Das wiederum spielt Terrorgruppen in die Hände. Der repressive und tyrannische Staat eignet sich als Hassobjekt viel besser als eine offene Demokratie. Die Spirale dreht sich.
Der jüngste Wandel in der Außenpolitik signalisiert, dass die Regierung einen Ausweg sucht. Ob sie nach dem verheerenden Anschlag in der Außen- und Innenpolitik mehr Mut beweisen kann und Reformen wagt, bleibt abzuwarten.
Normalität wird in der Türkei wohl in der absehbaren Zeit weiterhin die Ausnahme sein.