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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

29. 6. 2016 - 14:05

The daily Blumenau. EM-Journal '16-63, 29-06-16.

Heute ist noch kurz Zeit für eine Analyse der Systeme, Taktiken, Matchpläne, Strategien und Philosophien bei dieser Euro.

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.

Das ist ein Eintrag ins EM-Journal '16, da ist die Klick-Übersicht.

Das waren die Achtelfinals: Schweiz - Polen. dann Wales - Nordirland und schließlich Kroatien gegen Portugal.
Tag 2 brachte den Sieg von Frankreich gegen Irland weiters Deutschland vs Slowakei und Ungarn - Beglien
Tag 3 dann Italien vs Spanien und Engand - Island

Das war das Aus von Österreich in Runde 3. Das war der Rasierklingen-Tanz von Österreich gegen Portugal, so sieht es in der Nachlese aus. Das war Österreich vs Ungarn und das ist die Analyse dazu.

Das war Runde 3 in der Frankreich-Gruppe A, das in der England/Wales-Gruppe B, das in der Deutschland-Gruppe C in der Spanien-Gruppe D und der Belgien/Italien-Gruppe E.

Das war die zweite Runde mit Rumänien vs. Schweiz sowie Frankreich - Albanien weiters Russland gg. Slowakei und England - Wales sowie Ukraine - Nordirland und Deutschland vs. Polen. Dann war Schweden gegen Italien sowie Tschechien gegen Kroatien und Spanien vs. Türkei

Weitere Erstrunden-Spiele: Frankreich vs. Rumänien sowie Albanien - Schweiz und aus der der Gruppe B Wales vs. Slowakei und England - Russland. So gingen Polen gegen Nordirland und Deutschland - Ukraine. Und das war Türkei - Kroatien und Spanien - Tschechien.
Und dann noch Irland vs. Schweden und Belgien - Italien plus dann noch Portugal - Island.

Offizielles gibt's auf uefa.com und das ist die Info-Site von sport.orf.at.

#emjournal16 #fußballjournal16

Fußball ist in etwa so ausgereizt wie Popmusik: man denkt schon alles gehört zu haben, und dann kommt immer doch noch was Neues. Auch bei dieser Euro. Und es gibt sogar zweieinhalb kleine Trends.

Vorweg: die Mannschaften mit den innovativen Ansätzen und Ideen sind entweder noch dabei im Viertel-Finalgeschäft (wie Italien, Portugal und Wales) oder sind weiter gekommen als zu erwarten stand (Irland und vor allem Nordirland).

Titelgarantie ist eine überraschende taktische Formation, ein originelles System, eine unerwartete Strategie noch keine. Sie hilft tendenziell nicht optimal besetzten Teams dabei, sich gegen eigentlich Stärkere zu bewähren.
Der Zugriff der Stärkeren auf Bewährtes ist vor allem dann legitim, wenn die Verankerung der grundsätzlichen Philosophie der Mannschaft darin stark ist; und wenn das garantiert, dass man damit gegen eigentlich jeden Gegner einmal bestehen kann.

Dazu später, erst einmal die Trends:

1) der falsche Neuner hat seine Blütezeit wieder hinter sich. Auch Deutschland und Spanien haben wieder auf einen echten Center zurückgegriffen, nur die Slowakei hat zweimal (auch Österreich einmal) damit experimentiert und eines der vielen Gesichter von Wales ist auch ohne echte Spitze ausgekommen.

Man tritt also wieder fast durchgehend mit einem Mittelstürmer an, meistens einem hoch anspielbaren Mann, der für zweite Bälle sorgen soll.

Und: nur Italien und Portugal spielen durchgehend mit zwei echten Spitzen; bei allen anderen hängt einer der beiden nominellen Stürmer deutlich hinten dem anderen.

2) defensiv stehen unglaublich viele (fast alle) Teams im einem 4-4-2 - auch solche, deren offensive Grundordnung eine gänzlich andere ist. Selbst die Abwehr-Künstler aus Nordirland, die eine 4-5-1-Grundordnung einnehmen, schicken einen zusätzlichen Mann in die erste Pressing-Reihe. Ausnahmen bilden wieder nur Italien und Wales.

Übrigens: in Not geratene Mannschaften, die einen Rückstand aufholen müssen, grifffen bei der Euro auf Hollywood-Formationen zurück, deren Radikalität sich von früheren Turnieren abhebt. Neben dem quasi-normalen 4-2-4 hab ich auch Versuche in 3-3-4 oder gar 3-2-5 gesehen, von asymmetrisch angelegten Überrumpelungs-Ideen gar nicht erst zu reden.

Zurück zur Normalität.
Die sieht weiter so aus:
1) klassisches 4-3-3 bzw 4-5-1 oder 4-1-4-1. Jeweils ein Sechser, zwei Halbraumspieler, zwei Flügel. So spiel/ten in etwa ein halbes Dutzend Euro-Teams
2) klassisches 4-2-3-1 oder 4-4-1-1 bzw defensives 4-3-3. Jeweils mit zwei Sechsern, zwei Flügeln und einem zentralen Spieler im Mittelfeld. Das macht die Mehrheit, bis zu 18 Teams.

Die wenigen Ausnahmen verdienen Extra-Beachtung. Zuerst wäre da Italien mit seinem ausgefuchsten 3-5-2. das hat sich erst in der letzten Phase der Vorbereitung entwickelt. Im Frühjahr probierte Antonio Conte noch ein 3-4-3 mit zwei Sechsern, zwei Flügeln, zwei Halbstürmern und einer Spitze, ehe er sich für zwei Spitzen und nur einen Sechser entschied, und die beiden Halbraumspieler sowie die beiden Flügel in eine wirklich innovative Mischform ordnete. Es sind nämlich nicht - wie sonst Usus - die nominellen Außenspieler, die sich im Defensiv-Fall in die Fünfer-Kette zurückfallen lassen, sondern die - immer näher postierten - Halbraumspieler. Das erzeugt Vorteile in jedem Bereich: sowohl die Flügel als auch das Zentrum sind dadurch sehr schnell geschlossen. Zudem presst Italien dank der beiden Spitzen sehr früh in einem sehr hohen 5-3-2, und kann auch dank der hohen Ballsicherheit seiner Dreier-Abwehr das Spiel über jede ballgewinnende Formation sofort in die Spitze bringen. Gegen Belgien oder Spanien wurde dieses Spiel in Perfektion gezeigt.

Conte hat diese Idee auch aus Not wegen der Ausfälle seines kompletten Mittelfelds (Pirlo zu alt, Verratti, Marchisio und Montolivo verletzt) geboren, ich denke sonst wäre auch er ganz klassisch mit zwei Sechern angetreten.

Nicht aus Not, sondern wegen der Qualitäten seiner nur handverlesenen Klassespieler, hat Chris Coleman für Wales ein handgenähtes 5-2-2-1 erfunden: Vor einer ganz klassischen Fünfer-Abwehr, die der schwerfällig wirkende Kapitän Asheley Williams lenkt, bauen Allen und Ledley auf, davor genießen Bale und Ramsey alle Freiheiten und arbeiten ihrem Center (Robson-Kanu) zu. Coleman kann diesen wilden Risiko-Ritt auch zu einer vorsichtigeren Variante (dann ist es ein 5-3-2) umbauen, Ramsey kann sich da auch (bis hin zum zeitweiligen Sechser) zurückziehen. Mit dieser Rüstung bleibt die Mannschaft bislang weit über ihren Möglichkeiten. Weltklasse-Bale hin oder her - das alleine reicht (siehe Ibrahimovic) ja nicht im geringsten.

Das belegt auch Cristiano Ronaldo. CR7 lässt sich ohne Gemaule in ein hochkomplexes Team-Gefüge einspannen, mit dem Trainer Ferndando Santos bislang immer eine exzellente Basis gelegt hat (die Chancenverwertung kann er damit halt nicht beeinflussen; verloren hat er bislang jedenfalls noch nicht). Portugal geht von einer 4-4-2-Basis aus, interpretiert aber dabei zumindest fünf Positionen als höchst fluid. Künstler wie Quaresma, Nani oder eben Ronaldo sorgen dann für verwirrende Asymmetrie. Dazu kommt, dass Santos bis dato für jedes Match einen sehr spezifischen Plan aufgestellt hat, den gewagtesten fürs Achtelfinale gegen Kroatien: die völlig unerwartete, quasi-italienische Performance des nicht-ins-Spiel-kommen-lassens, verstörte nicht nur das Publikum, sondern vor allem den Gegner nachhaltig.

Zurück zu den Systemen, zurück zur variabelsten Mannschaft des Turniers: das war Superzwerg Nordirland. Michael O'Neill war nicht nur der einzige, der zwischen 5er- und 4er-Abwehr switchte (vom 5-4-1 auf ein 4-5-1 bis hin zu einem 4-3-3) sondern auch der einzige, der sein Mittelfeld nicht nur personell, sondern auch taktisch ununterbrochen durchmischte - ohne dass dabei ein einziger Anschlußfehler passierte. Neben Namensvetter Martin O'Neill (und Irland) war er auch der einzige, der hin und wieder eine Mittelfeld-Raute aufbot. Hier nützte ein Außenseiter alle zur Verfügung stehenden Mittel um sich a) optimal auf einen gut ausgespähten Gegner einzustellen und b) in Drucksituationen die Spannung zu erhöhen oder rauszunehmen sowie c) bei Rückstand alles in die Waagschale zu werfen. gegen das eigentlich deutlich bessere Wales und auch Polen war man so auf Augenhöhe, gegen die Ukraine gelangen so drei Punkte. Nordirland war wie dein Ameise, die ein Vielfaches ihres Körpergewichts stemmen kann. Besser kann man's nicht machen.

Erwähnt werden muss auch das österreichische Experiment, das wilde 5-2-3 aus dem letzten Gruppenspiel. Im Gegensatz zu den Italienern, Nordiren und Walisern, die viel probiert hatten, ehe sie in einer ähnlichen Anlage landeten, hatte das ÖFB-Team diese Idee nur in Trainingsspielen geprobt. Außerdem war Alaba als falscher Neuner eine dramatische Fehlbesetzung.

Unter den letzten Acht stehen mit Italien, Portugal und Wales nun also drei Teams, die massiv auf ungewöhnliche Systeme, spezielle Strategien und genau abgezirkelte Matchpläne setzen. Dem gegenüber sind mit Deutschland, Frankreich, Belgien, Island und Polen fünf Mannschaften dabei, die sich nie anpassen, sondern immer ihr Ding durchziehen - wobei die drei Erstgenannten da auch über einen Plan B verfügen. Jogi Löw etwa kann Deutschland jederzeit anders strukturieren, wird aber den Teufel tun, weil er gerade erst in den Flow hineingekommen ist. Auch Frankreich und Belgien gehen davon aus, dass sie mit ihrer Spielidee das Match dominieren, die Hausherren mit rollenden Angriffen, die Belgier im Hoffen, dass sich der Gegner aufs Mitspielen einlässt und dann ausgeknockt werden kann.

Polen und Island haben keinen Plan B, sind aber in ihrer grundsätzlichen Philosophie so abgesichert, dass sie ihn im Normalfall auch nicht benötigen. Ihr Matchplan ist letztlich immer derselbe, wenn auch leicht justierte.

Die Co-Favoriten Spanien und England sind aus exakt gegenläufigen Gründen grandios gescheitert.
Spanien ist tief und fest in seiner Fußball-Philosophie verankert, die strategische Ausrichtung in jedem Spiel aufs Neue klar, die Sicherheit sich schlussendlich mit einem Tor mehr durchzusetzen, ist - angesichts des Back-Katalogs auch zurecht - überlebensgroß. Wird dieses Bekenntnis ins Wanken gebracht, dominiert zuallererst die Verblüffung dass so etwas überhaupt möglich ist. Ehe dann der verschüttete Modus der Wehrhaftigkeit mittels eines Alternativplans angeschaltet wird, ist es auch schon zu spät.
England hingegen verfügte über keine Verankerung, über keine Philosophie und über dürftige Matchpläne, was großteils der konservativen Grundeinstellung des Managements anzulasten ist. Ganz im Gegensatz zu den kleinen britischen Teams, die sich allesamt sehr viel überlegt hatten (vom irischen Matchplan gegen Schweden über die nordirische Variationsbreite bis hin zur innovativen walisischen Grundordnung) begnügte sich Roy Hodgson damit das, was in der Vorbereitung am wenigsten schlecht funktioniert hatte (Rooney und Alli auf den Halbpositionen vor Dier, alles in einem 4-3-3) umzusetzen, und zwar immer in einer von Vorsicht geprägten Variante. Was das mit der Mannschaft, zb mit Kapitän Rooney, machte, war nach einer guten Halbzeit schnell ersichtlich.

Apropos "die kleinen britischen Teams": das ist der dritte Trend.

3) taktische Variabilität kommt zunehmend aus Ecken, in denen sie nicht vermutet wird. Die großen Innovationsträger sind - neben den diesbezüglich verdächtigen Italienern und Portugiesen - britische Teams, denen immer noch pauschal strategische Einförmigkeit oder gar Kick & Rush unterstellt wird. Dass sich die Kleinen ganz viel einfallen ließen, um nicht abzustinken, und ihre Coaches mittlerweile wie Vereinstrainer vorgehen, auf das Medien-Gewäsch von den Mentalitäten scheißen und sich ganz gezielt vorbereiten, ist vielleicht kein neuer Trend, aber noch nie in dieser Größenordnung zu beobachten gewesen, auch dank der 24er-Regelung.

Teams wie Schweden, Russland, der Ukraine, Kroatien, Tschechien, der Schweiz oder der Türkei, aber vor allem England ist ein solcher Schritt durchaus zu wünschen, sofern sie sich beim nächsten Anlauf besser präsentieren wollen. In Österreich sind diese Überlegungen eh schon teil der ÖFB-Philosophie; auch wenn jetzt alle die Klasse wiederholen müssen.