Erstellt am: 26. 6. 2016 - 17:33 Uhr
Worauf Du Dich verlassen kannst!
Die Londoner Rapperin und Lyrikerin, die vor zehn Jahren begann, an Poetry Slams teilzunehmen, Theaterstücke geschrieben hat, mit ihrem Album "Everybody Down" 2014 für den Mercury Prize nominiert war, hat ihren ersten Roman veröffentlicht. In "The Bricks That Built The Houses", wie das Buch im Original heißt, tauchen Charaktere auf, die auch in Kate Tempests Songs und Lyrik Zuhause sind: Millenials, die sich im Londoner Leben durchschlagen.
"Worauf du dich verlassen kannst" könnte auch als Sub-Unterschrift die Antwort "Auf nichts!" im Titel tragen. Personen, die ihr tägliches Leben zwischen Selbstverwirklichung und ökonomischen Zwängen manövrieren. Gentrifizierung, Drogen und Sex. Erwachsen werden und doch nicht erwachsen sein. Eltern und Familie. Selbstbestimmung.
"Worauf Du Dich verlassen kannst" von Kate Tempest ist im Rowohlt Verlag erschienen.
Aus dem Englischen übersetzt von Karl und Stella Umlaut.
"Das Jobcenter, das Klassenzimmer, die Kneipen, das Fitnessstudio, den Parkplatz, die Wohnung, den Dreck, das Fernsehen, die permanente Zumutung der Nachrichten, den Staubsauger, die Zahnbürste, die Laptoptasche, das teure Haarpflegeprodukt, das dir tief drinnen ein besseres Gefühl gibt, die Schlange vor dem Geldautomaten, das Kino, die Bowlingbahn, den Handy-Laden, die Schuldgefühle, die völlige Leere, die überall lauert, den Schmerz, mit anzusehen, wie aus einem Mensch ein Schatten wird. Die Gesichter der Menschen verwandeln sich zurück in Fratzen, sie reihern ihr Innerstes in die Gosse, umklammern ihre Liebhaber so lange, bis sie sich die Luft zum Atmen nehmen und die Liebe tot zurückbleibt, nasser Beton und Sprühfarbe, Kinder, die Pornos gucken und Monster trinken."
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rowohlt
Es sind Sätze, wie diese, die einen gleich zu Beginn begeistern. Kate Tempests Stil, diese Art von Bewusstseinsströmen in den Roman einfließen zu lassen, ist genau das, was einen motiviert umzublättern und in die Handlung einzutauchen.
Im Buch treffen wir auf Becky, die im Café ihres Onkels aushilft, sich aber mit erotischen Massagen ihren eigentlichen Traumberuf als Tänzerin "leistet" und sich so über Wasser hält.
"Für Becky haben diese Massagen sehr viel mit dem Gefühl zu tanzen gemein. Sie setzt sehr viel Körperkraft ein, um so feinfühlig sein zu können, wie es notwendig ist, damit es sich echt anfühlt. Sie muss wie Wasser über ihre Klienten hinwegfließen, und dazu benötigt sie Körperspannung. Für sie soll es sich mühelos anfühlen."
Auf einer Party, auf der alle sind wie "Monster, Schleimscheißer und Showgirls, die schreien und kreischen, um zu beweisen, dass sie am Leben sind." lernt Becky Harry kennen. Eine "jungenhafte Frau mit Cowboygang", die an "Medienfirmen und Literaturagenturen" Drogen verkauft und alles Ersparte zur Seite legt. Sobald sie genug Geld beisammen hat, will sie aufhören und in ein Lokal investieren. "Es soll ein Restaurant mit Cafe und einer Bar werden, damit es sich selbst trägt. Aber es soll zugleich so eine Art Begegnungsstätte sein. Mit Räumen für Workshops. So ein Ort, wo Leute hingehen können. Um zu entspannen, abzuhängen und etwas zu lernen."
Pete ist arbeitsloser Akademiker: "Was nützt mir das Lernen, wenn ich mir nicht mal das Essen auf dem Tisch und ein Dach übern Kopf leisten kann? Manchmal denke ich darüber nach, Lehrer zu werden."
Leon ist Harrys Geschäftspartner: "'Es ist immer dasselbe. Arbeiten, essen, schlafen, ficken, saufen, tanzen, sterben.'" Aber Leon hatte das Leben nie so gesehen. Leon sah, dass das Leben mal abscheulich und mal schön und manchmal beides sein konnte, aber nie schal. Er wusste, dass jede kleinste Begebenheit wahrgenommen, empfunden, genossen werden musste, dass man entweder für oder gegen sie kämpfen musste."
Verdünnung
Die Sprache, die einen zu Anfang begeistert hat, verdünnt zusehends. Während am Anfang noch Platz für die Charaktere und die inneren Monologe ist, hat man bei den letzten 100 Seiten das Gefühl, man befindet sich im Fast-Forward-Modus, weil gleich "etwas" passieren muss.
"Worauf du dich verlassen kannst" ist kein schlechtes Buch, es hat nur Schwachstellen im Vorantreiben der Handlung. Es gibt Lebensrealitäten wieder, die zutiefst deprimierend sind. Die Reise endet an der Bar im Pub. Als Synonym für ein "Zuhause" und eine "Familie", die es so nicht gibt. Aber man kann sich darauf verlassen, dass man dort der Sehnsucht am nächsten ist.