Erstellt am: 24. 6. 2016 - 19:46 Uhr
Post Brexit Blues
FM4 Auf Laut
Zwischen Brexit und Bregret: Wer wird künftig den Ton in der EU angeben? Jetzt haben sie es, aber wollten sie das auch? Selbst prominente Brexit-Befürworter wie Nigel Farage und Boris Johnson äußern sich vorsichtig zur Abnabelung Großbritanniens von der EU. Elisabeth Scharang mit Politikwissenschaftler Vedran Dzhic und Robert Rotifer in FM4 Auf Laut, am Dienstag, den 28. Juni, ab 21 Uhr und im Anschluss für 7 Tage im FM4 Player.
Ich sag's, wie es ist, es war ein harter Tag. Er begann um vier Uhr früh mit dem Erwachen in einen Albtraum, und die viele Arbeit seither hat mich daran gehindert, den dunklen Gedanken zu erliegen.
Wer's nachlesen will, ich hab auf ORF ON einen Teil davon niedergeschrieben, was es an diesem Tag zu diesem selbstverschuldeten kleinen Weltuntergang in Großbritannien zu vermelden gab. Ich will hier bloß noch ein paar persönliche Dinge nachschicken.
In all dem Mist steckt auch eine kleine Befreiung für mich, der ich versucht habe, mit viel Diplomatie und auf Eierschalen gehend meinen Teil gegen den blöden Brexit zu tun.
Ich fühle mich nun frei zu sagen, wie erstaunlich die Dummheit einer so entscheidenden Debatte in einem Land war, das sich selbst so gern als eine „reife Demokratie“ bezeichnet.
Erst heute, wo alles vorbei ist, wird darüber diskutiert, was der Brexit etwa für Konsequenzen auf jenen Teil der Industrie hat (siehe die BMW- oder Nissan-Werke), der selbst von Zulieferungen aus dem EU-Raum abhängig ist und seinerseits in den EU-Raum zuliefert.
Erst heute wird die Realität anerkannt, dass die Regierungen der verbleibenden EU-Staaten wenig Lust haben, ihren eigenen Rechtspopulisten mit freundlichen Gesten für Großbritannien ein nützliches Argument für weitere Abspaltungen zu liefern.
Erst heute akzeptieren die Besserwisser_innen, dass der Gegenwert all der EU-Beiträge, die sie sich mit dem Brexit ersparen wollten, an einem einzigen Börsentag hundertfach ausradiert würde.
Erst heute wird ausgesprochen, dass es all das Geld für die neuen Spitäler durch jene ersparten EU-Beiträge selbstverständlich nicht geben wird.
Und dass der britische Staat all die EU-Förderungen für wirtschaftsschwache Gebiete wie Wales und Cornwall, die mit großer Mehrheit für Brexit stimmten, nie und nimmer selbst bezahlen können wird.
Erst heute merken die Engländer_innen, was sie mit ihrer Stimme in Schottland und Nordirland angestellt haben, und wie schnell sie sich im FUK, dem Former United Kingdom, wiederfinden könnten.
Von einem durch die Frage der neuen EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und Nordirland ausgelösten neuen Religionskonflikt auf der anderen Insel da drüben einmal abgesehen.
Sie lügen sich noch vor, dass alles okay sein wird, aber selbst den Gesichtern der Gewinner_innen sieht man den Schock dieser Realisation an.
Und die Anekdoten über Brexit-Wähler_innen, die sich nie dachten, dass sie gewinnen würden, und jetzt nicht begreifen können, was sie da getan haben, häufen sich.
Es gab diesen Moment zu Anfang der Fußball-EM, als englische Fans die Straßen von Marseille verwüsteten und dazu „Fuck Europe – We're all voting out“ riefen, da begann das Zucken in meinem großen Zeh, das mir sagte, was es geschlagen hatte.
So richtig verdrängen konnte ich das nie.
Und dann war da der Moment, als ich ein seltenes Briefing der „Britain Stronger IN Europe“-Kampagne für die internationale Presse besuchte und dachte, ich hätte mich in eine besonders surreale Folge von „The Thick of it“ verirrt.
Inklusive der filmreifen Szene, als hinter dem Spokesman James McGrory das Transparent mit dem Logo ins Schwanken geriet und die Assistentin Minuten lang mit dem Ständer rang, bis er verbogen zu Boden ging.
Der Kollege von der Washington Post fragte McGrory, warum die IN-Kampagne nicht irgendeine positive, europäische Botschaft zu vermitteln habe.
„Wir konnten die Leute jetzt auch nicht in ein paar Monaten dazu bringen, Europa zu lieben“, sagte der. Da blieb also nur mehr der Appell an den Egoismus und die Angst vor Veränderung.
Ich fragte, warum man den Leuten nicht die Logik transkontinentaler Herstellungsketten erklären kann, die nur in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum funktionieren.
Zu kompliziert, sagte er.
Ich hakte nach: Wieso den Leuten nicht erklären, dass sie nicht mehr auf ihre blaue E111-Karte vertrauen werden können, wenn sie beim Polterabend in Bratislava die Hotelstiegen runter stolpern und im örtlichen Spital aufwachen.
Interessiert die Medien nicht, sagte er.
Beide Themen waren heute auf der BBC-News-Seite ein großer Renner.
Und dann schwadronierte McGrory noch was von der Erfolgsstory der britischen Wirtschaft in der EU und den Millionen neuer Jobs, die man geschaffen habe.
Jobs, die in Wahrheit Nullstundenverträge und erzwungene Scheinselbständigkeit bei niedrigstem Einkommen bedeuten.
Zum ersten Mal konnte ich so richtig verstehen, warum sich die Leute davon verarscht fühlten – ganz jenseits jedes Nationalismus und jeder Ausländerfeindlichkeit. Auch von den Beschwörungen der Gewerkschaft, dass bei einem Brexit hart erkämpfte Arbeitsrechte verloren gehen könnten, die diese Leute aber nie besessen haben.
Ich finde es allerdings auch gut, dass die Brit_innen sich nicht länger in den Sack lügen können, was für ein speziell tolerantes, weltoffenes Land sie nicht sind.
Die Wahrheit ist: Britannien ist ein Land wie jedes andere in Europa auch. Ich will nicht wissen, wie so eine Abstimmung in Österreich ausgegangen wäre, und das ist ja auch die große, weitergehende Gefahr an dieser Geschichte.
Auch wieder was, das die an der Politik des Kontinents desinteressierten britischen Medien und Politiker_innen nicht wahrhaben wollten.
Ich hab noch keine Ahnung, was aus mir und meiner Familie wird.
Sowohl der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan als auch Schottland haben verlauten lassen, dass EU-Bürger_innen bei ihnen weiterhin unbegrenztes Aufenthaltsrecht genießen werden.
Vielleicht ziehen wir da wieder hin.
Die Leute in meinem Wahlkreis haben schließlich auch mehrheitlich für Brexit gestimmt. Trotz der tausenden europäischen Student_innen hier, trotz all des Euro-Tourismus, trotz der Nähe zur Welt jenseits des Kanals. Ich werde teuer dafür bezahlen, sie aber auch.
Und irgendwie hab ich's besser als meine englischen Freund_innen, die allesamt zur Verliererseite gehören, und die noch nie in ihrem Leben von wo weggezogen sind.
Sie empfinden das wie ein neues Leben in einem feindlichen Land, und dieses Land ist das ihre.
Verdammt und verschissen, das muss noch viel, viel schlimmer sein.