Erstellt am: 23. 6. 2016 - 20:34 Uhr
Project Fear? It's only just beginning
So, jetzt ist es also gelaufen, das furchtbare Ding. Nichts mehr, was man tun kann.
Also wählen konnte ich sowieso nicht, aber auch das Dreinreden nützt nun nichts mehr.
Die ewigen Versuche, ein bisschen was Faktisches in diese vergiftete Referendumsdebatte reinzubringen.
Die Illusion, dass man per social media die Wände der Echokammer perforieren kann.
Das Blogs und Artikel schreiben „in German“ (for the fish).
Die Unterschriftenlisten, die konspirativen Emigrant_innentreffen, das Briten Umarmen.
Das ewige Brüllen in Richtung Rundfunkgerät, wann immer die selben Lügen und Teilwahrheiten unaufhaltsam wie Furzluftblasen in der Badewanne an die Oberfläche steigen.
Heute in der Früh sagte einer im Radio: Morgen beginnt die Zeit, wo man wieder auf Facebook schauen kann, ohne sich zu ärgern.
So stellen die Leute sich das also vor.
Aufgewachsen in einer Welt, wo man gewohnt ist, dass Wahlen eh nie was ändern (auch ein Blödsinn übrigens), denkt man sich: Wenn das Scheiß-Referendum vorbei ist, geht’s eh weiter wie vorhin, und wir können uns wieder dem nächsten Box-Set zuwenden.
Mitnichten. Was immer da heute rauskommt, danach geht's überhaupt erst los.
Robert Rotifer
Spielen wir es einmal kurz durch, wo's schon gerade so lustig ist:
Knapp wird es ausgehen, das steht ziemlich sicher fest.
Wenn Remain sich durchsetzt, dann ist das aber auch kein Fortschreiben des status quo. Denn der Deal des David Cameron wird der Regierung die Freiheit geben, es den diffamierten Einwander_innen einmal ordentlich zu zeigen. Und sei es nur um den die letzten paar Monate hindurch geschürten Volkszorn zu befriedigen.
„Wir tun was“, das ist immer die schlimmste Drohung.
Robert Rotifer
Vorgestern Abend bei der großen Fernsehdebatte in der Wembley Arena stieg zum Beispiel der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan für die gute Sache Remain auf die Barrikaden. Er wehrte sich gegen den Vorwurf, die Pro-EU-Kampagne sei ein „Project Fear“, indem er die Gegenseite als „Project Hate“ bezeichnete.
Applaus brandete auf, und er rief eine Jubelbotschaft nach der anderen in den Saal. Darunter auch jene, dass EU migrants in Zukunft vier Jahre lang einzahlen werden müssten, bis das System ihnen Sozialleistungen gewährt.
Der den anderen 27 Ländern der EU abgepresste Bruch der Antidiskriminierungsregel klang plötzlich wie eine progressive Errungenschaft. Und ich spürte meine eigene Euphorie mitschwingen, schließlich ist Khan ein guter Redner, und er ist auf meiner Seite. So schnell geht das, und schon gehört man mit zu den Schafen, die freudig zur Einweihung der neuen Schlachtbank tanzen.
Keine Frage, es wird ungemütlich bleiben. Wir dürfen von einer Spaltung der Tories ausgehen, zu deren Verhinderung der Rechten weiter rohes Fleisch zugeworfen wird. David Cameron wird vor allem einmal seine Karriere retten wollen. Zu geschwächt um seine Reihen zu säubern, wird er Boris Johnson, Michael Gove und Co. mit Konzessionen füttern. Was kostet der Human Rights Act?
Und inzwischen wird der Präzedenzfall der britischen Sonderregelungen sich wie ein Geschwür durch ganz Europa fressen.
Robert Rotifer
Dazu kommen dann noch jene Labour-Politiker_innen, die im Referendums-Wahlkampf begriffen haben, dass ein großer Teil ihrer Working Class Kern-Klientel eigentlich doch ziemlich xenophob ist. Zum Beweis, dass sie „zuhören“, haben sie schon in den letzten paar Tagen mit steigender Frequenz verkündet: Über die Bewegungsfreiheit in der EU wird man diskutieren müssen.
Damit nur mehr in Europa herumziehen kann, wer auch sein Geld wert ist.
Solche Gedanken lassen sich ausbauen. So hat zum Beispiel von uns privilegierten EU-Bürger_innen keiner viel Schlaf darüber verloren, als die britische Regierung neulich ein Gesetz einführte, demzufolge Einwander_innen aus Drittländern nun mindestens 35.000 Pfund im Jahr verdienen müssen, um ihr Aufenthaltsrecht zu behalten.
Das ließe sich auch auf unsereiner ausweiten in der Post-Referendums-Welt des neuen britischen Deals.
Und die wäre noch der Glücksfall.
Robert Rotifer
Wenn dagegen passiert, was ich in meinem großen Zeh spüre, und Britannien tatsächlich Richtung Brexit stürmt, dann rasselt erst einmal das Pfund runter. Dann müssen die britischen Leitzinsen erhöht werden, und der ganze Hypothekenschwindel, die von der Regierung gesponserte Wohnungsmarktblase, die all den hoffnungsvollen Jungfamilien mittels „Help to buy“ die Illusion einer ewigen Fast-Null-Zins-Welt verkauft hat, wird platzen, wenn die Leute sich die Raten für ihre überpreisten Eigenheime nicht mehr leisten können.
Das hatten wir alles schon. Ich bin so alt, dass ich mich noch dran erinnern kann, wie Britannien sich anfühlte, als es Anfang der Neunziger aus dem Exchange Rate Mechanism kippte. Und das war noch ein Witz gegen das Abenteuer Brexit.
Hauptsache Souveränität.
Boris Johnson hat ja bereits versprochen, dass er sich entschuldigen wird, falls Britannien nach einem Brexit wieder in die Rezession schlittert. Wer diese Entschuldigung artig entgegen nimmt, kann sich darum dann ein Eis kaufen.
Aber mit etwas Glück für die Brexit-Brigade wird Britannien den Rest des Kontinents auf den Talflug mitnehmen, und dann hat man noch zwei Jahre Zeit, bis der Loslösungsprozess unter Artikel 50 abgeschlossen ist. Zwei Jahre, in denen sich noch allerlei Dolchstoßlegenden schmieden lassen, warum das böse Ausland da drüben erst recht an allem Schuld ist.
Meanwhile wird Boris Johnson sich entweder gleich zum Premierminister oder wenigstens zu Neuwahlen durchgeputscht haben. Die trotz ihrer Lustlosigkeit in der Referendums-Kampagne dann doch ziemlich einig mit „Remain“ identifizierte Labour Party wird dabei als große Verliererin übrig bleiben.
Und jene Strateg_innen, die die tolle Idee hatten, die Volksabstimmung zur Betrachtung von David Camerons Downfall aus der ersten Reihe fußfrei zu nutzen, werden dem Zeitgeist hinterher in Richtung rechts nachrücken. Sie werden „zuhören“, siehe oben, dann mitjohlen, aber mit schöneren Worten.
Und schon ist das „Australian Style Points System“ Mainstream-Konsens, und irgendwo auf den Kanalinseln werden die ersten Migrant_innen-Lager eingerichtet.
Vielleicht bin ich ja wirklich ein Pessimist, Defätist, Schwarzseher, Unkenrufer, Katastrophenmeier.
Aber um ganz ehrlich zu sein, ich scheiß mich schon ein bisschen an hier. Und bei euch kaum weniger.
Project Fear also. Ich wünschte, ich könnte sagen, meine Angst wäre ein Projekt. Was für ein arroganter, verantwortungsloser Haufen dieses britische Establishment doch ist.
Also, wir hören uns hier wieder, wenn wir wissen, welche Dystopie gewonnen hat. Im Zweifelsfall dann bitte doch die erste.