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Ali Cem Deniz

Das Alltagsmikroskop

22. 6. 2016 - 10:31

Der Ausnahmezustand ist der Normalzustand

Eine Attacke auf Radiohead-Fans, verbotene LGBT-Demos und Gezi Park 2.0. Die Türkei sorgt für Schlagzeilen

Was ist da in der Türkei los? Fragt man sich international mit Verwunderung immer wieder. In der Türkei fragt man sich das eigentlich jeden Tag. Mit dem Unterschied, dass die Verwunderung schon lange nachgelassen hat.

Attacke auf Radiohead-Fans

Die Meldung, dass Islamisten in Istanbul Radiohead-Fans angegriffen und verprügelt haben klang dann doch bizarr. Das „Velvet Indieground“ ist ein kleiner Plattenladen im „Szeneviertel“ Cihangir. In der Gegend gibt es viele ähnliche Läden und Clubs, aber unter ihnen hatte das kleine „Velvet Indieground“ einen besonderen Status. Die Auswahl war zwar nicht sehr groß, aber dafür umso vielfältiger.

Der Besitzer Segou Lee ist nicht nur leidenschaftlicher Musikhörer, sondern auch Fan von Istanbul und lebt seit sechs Jahren in der Metropole.

Am Abend des Angriffs organisierte Lee eine Release-Party für das neue Radiohead-Album „A Moon Shaped Pool“ und streamte die Veranstaltung live übers Internet. Die Attacke auf Lees Laden konnte man so live mitverfolgen.

Das Video zeigt zwei Männer, die den Plattenladen stürmen, die Gäste rauszerren und dann anfangen, auf sie einzuschlagen. Zeugen berichten später, dass rund zwanzig Männer am Angriff beteiligt waren.
Zwischen Drohungen, wer jetzt wie gefickt wird, hört man auch Sprüche wie „Schämt ihr euch nicht während Ramadan?“

Gewaltexzesse während Ramadan sind nichts Neues und jedes Jahr gibt es ein oder zwei Meldungen über „Fasten-Schlägereien“. Die finden aber meistens eher im „privaten“ Rahmen statt. Der scheinbar organisierte Angriff auf das Velvet Indieground sorgte deshalb für Entsetzen und Verwunderung. Schon bald kursierten auf Twitter & Co unterschiedliche Theorien.
Die Angreifer schauen nicht aus wie „klassische“ Islamisten und wenn sie wegen dem Alkoholkonsum den Plattenladen gestürmt haben, müssten sie die hunderten Lokale und Bars in der Gegend ebenfalls angreifen. Gerüchten zu Folge soll der Besitzer des Geschäfts schon seit einiger Zeit versucht haben Lee aus dem Laden zu kriegen. Die berüchtigte „Immobilien-Mafia“ ist ein altbekanntes Phänomen in Istanbul, wo die Mieten rasant steigen und es wäre nicht das erste Mal, dass ein Vermieter mit Gewalt eine Räumung erzwingt.

Einer der Angreifer hingegen behauptet, dass die Radiohead-Fans seine Frau angegriffen hätten. Nachbarn aus der Gegend berichten, dass es in der Vergangenheit immer wieder Probleme wegen Lärm gab und dass die vielen Gäste, die im kleinen Lokal keinen Platz fanden, die Straße blockierten.

Lee selbst hat gestern erklärt, dass er mit keinem Journalisten über den Vorfall gesprochen hat und dass man vorsichtig mit Verschwörungstheorien umgehen sollte. Gleichzeitig beteuerte er, dass er den Laden weiterführen möchte und dass die Angreifer nicht stellvertretend für die Türkei sind.
Eine spontane Demo gegen den Angriff auf das Velvet Indieground wurde von der Polizei mit Tränengas aufgelöst.

LGBT-Demo verboten

Apropos Tränengas. Das kommt ja in der Türkei häufig zum Einsatz. Zuletzt bei der LGBT-Pride Week in Istanbul. Dass die „konservativen Demokraten“ von der AKP-Regierung kein Freund der Parade sind, ist kein Geheimnis. Dennoch ist die Demo, die von unterschiedlichen LGBT-Vereinen organisiert wird, eine Istanbuler Tradition. Seit 2003 fand sie mit massiver Polizeipräsenz aber ohne Zwischenfälle statt. Bis zum letzten Jahr.

2015 und heuer wurde die Parade kurzfristig verboten. Mit der Begründung, dass die Sicherheit der Beteiligten nicht gewährleistet werden kann. In der Türkei, die seit über einem Jahr von Terroranschlägen erschüttert wird, wird es immer schwieriger Demos zu organisieren. Gegen die Parade gab es dieses Jahr tatsächlich konkrete Drohungen. Die Jugendverbände der ultranationalistisch-islamistischen „Großen Einheitspartei“ (BBP) hatten einen Tag nach dem Massaker von Orlando angekündigt, dass sie die Pride-Parade angreifen werden.

Alperen Ocaklari unter dem Regenbogen

Uludag Sözlük/Ofelias Labyrinth

Die Jugendorganisation der BBP. Die Fahnen sind leider nicht echt.

Rund 50 AktivistInnen ließen sich davon nicht abschrecken und versammelten sich trotzdem. Die Polizei löste die kleine Demo mit Tränengas auf. Auf der anderen Seite verhaftete sie am Taksim-Platz rund ein Dutzend Homophobe, die die Parade attackieren wollte.
Die LGBT-Organisationen wollen aber nicht klein beigeben. Sie wollen gegen das Demoverbot Klage einreichen und nächstes Jahr erneut auf die Straße gehen.

Gezi 2.0.

„Wieso will eigentlich Tayyip, dass wir ein zweites Gezi veranstalten?“ fragten sich User im türkischen Ekşi Sözlük. Die Seite ist eine Mischung aus Reddit und Urban Dictionary und war neben Twitter eine der wichtigsten Kommunikations- und Infokanäle für Gezi-AktivistInnen, die ziemlich genau vor drei Jahren monatelang gegen den Umbau des kleinen Gezi-Parks am Taksim-Platz protestiert hatten.

Im ganzen Land hatten Millionen Menschen an den regierungskritischen Demos teilgenommen und sieben Menschen starben, bis die Regierung endlich nachgab und die Umbaupläne stoppte.
„Ich sage es unserem verehrten Bürgermeister. Sie müssen jetzt mutig sein. Wir werden das historische Gebäude auf dem Gezi-Park errichten“ verkündete Präsident Recep Tayyip Erdoğan unter Beifall bei einem öffentlichen Auftritt letzte Woche in Istanbul.

Seither gibt es eine große Debatte über eine mögliche Neuauflage der Gezi-Proteste und natürlich auch hier: massenweise Verschwörungstheorien. Manche glauben, dass Erdoğan die Bevölkerung von heiklen Themen „ablenken“ möchte. Da geht es vor allem um die Annäherung an Israel und Russland.

Ali Cem Deniz

Die Erinnerungen an Gezi verblassen auch drei Jahre später nicht. Ein Graffiti in Wien: "Berkin Elvan ist unsterblich". Berkin war mit 15 Jahren das jüngste Todesopfer der Gezi Proteste

Andere glauben wiederum, dass Erdoğan Proteste gezielt provozieren möchte, um seinen Rückhalt in der Bevölkerung zu stärken. Die Gezi-Proteste hatten ihn zwar bei seinen GegnerInnen zu einer unverzeihlichen Hassfigur gemacht, aber insgesamt stiegen seine Umfragewerte.

Das größte Thema in der Türkei ist weiterhin die Einführung einer neuen Verfassung. Sie soll die von der Militär-Junta 1980 eingeführte Verfassung ersetzen und ein Präsidialsystem einleiten. Die AKP hat nicht genug Sitze, um alleine die neue Verfassung zu erstellen. Deswegen rechnen viele mit einem Referendum, wo es auf jede einzelne Stimme ankommen wird. Dass die Gezi-AktivistInnen jetzt verwirrt und zögerlich reagieren ist wenig überraschend. Ob die Massenbewegung, die aus einer spontanen Demo entstand, sich wiederbeleben lässt bleibt unklar. Sicher ist in der Türkei wie immer nur eines: die nächste Krise kommt bestimmt.