Erstellt am: 21. 6. 2016 - 13:27 Uhr
Zwischen Euphorie und Hohlheit
Eigentlich wollte ich von einer großen, alten Liebe von mir schreiben, Jungle Music straight outta Brixton. Ihr hättet dann so etwas in der Art gelesen:
Gently Out of Time, violently on the point
Congo Natty ist einer der Pioniere des Jungle. Seine Produktionen sind nach wie vor Genre-definierend. Unter dem Namen Rebel MC hatte er Ende der 80er Jahre mehrere Chartplatzierungen, bevor er sich Jah und dem Produzieren zugewendet hat. Inzwischen ist Congo Natty fünfzig Jahre alt und es ist ganz klar, was das Publikum von ihm Jahr ein, Jahr aus hören will - die 126 bpm-Hits aus den frühen 90er Jahren oder Neuauflagen in diesem Stil. Congo Natty scheint das inzwischen herzhaft egal zu sein, er ist am diesjährigen Sónar mit Tenor Fly, ebenfalls Legende aus den 90er Jahren, und den MCs Nanci & Phoebe aufgetreten und hat den Crowd Pleaser "One Love" gespielt, mehr Bob Marley als Eigenproduktionen und Tenor Fly hat so gut wie gar nicht zum Mikrofon gegriffen.
Ich suche Details zu dem Sónar-Set und finde nur Meldungen über den Tod des britischen MCs Tenor Fly am Tag seines dortigen Auftritts. Nähere Umstände sind bisher noch keine bekannt.
Tenor Fly war seit den späten 80er Jahren als MC unterwegs. Seinen größten Hit hatte er 1997 mit den Freestylers, "B-Boy Stance" - mein persönliches "Smells Like Teen Spirit" - und den "Jah hates Junkies"-Witz, den ich gemacht habe, weil Tenor Fly und Congo Natty tatsächlich eine Coverversion von Nirvana bei ihrem Abgang gespielt haben, hätte ich mir vielleicht besser verkniffen.
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Über den Blog "Brian Shimkovitz Awesome Tapes from Africa“" ist das Album Obaa Sima von Ata Kak bekannt geworden. Letztes Jahr wurde das über 22 Jahre alte Kassetten-Album ge-remastert und der Musiker aus Ghana, der inzwischen nach Kanada gezogen war, bekommt für seine Mischung aus Highlife, Soul, Disco und Rap jetzt den Respekt und das Sónar-Booking, das seit Jahren fällig ist. Die komplexe Geschichte der Suche von Brian Shimkovitz, dem Autor und Labelgründer von "Awesome Tapes from Africa", nach dem Musiker Ata Kak ist hier nachzulesen.
Vor Tageslicht geschützt spielten Patrick Pulsinger und Sam Irl auf ihrem Gerätepark in der Halle der RBMA. Die spanischen Fanboys in der zweiten Reihe verzweifelten, als nach dem Ende des Sets das Wort nicht an sie gerichtet wurde und schleuderten leicht verzweifelte, nach Bibel-Zitaten klingende "Bitte sprich zu uns, nur ein Wort"-Blicke in Richtung Bühne.
Ebenfalls mit einer kultischen VerehrerInnenschaft gesegnet waren Mad Mike, Mark Flash und Jon Dixon, die ihr Generationen von Underground Resistance-Musikern verbindendes Projekt Timeline spielten: High Tech Jazz live mit ausgiebigem Saxophon- und Keyboard-Einsätzen.
1-Euro-Shop-Ästhetik
Santigold hat während ihres Konzerts alle Nuancen des Stimmungsbarometers zwischen Konsum-induzierter Euphorie und Hohlheit auf und abgespielt. Ihre Bühnenshow und die Visuals waren wie das Artwork des aktuellen Albums von der Ästhetik der 99cent-, bei uns 1-Euro-Läden, geprägt.
sonar
Konsequenterweise saßen die identisch gestylten Tänzerinnen zu Beginn in Couchstühlen, mapften gelangweilt Snacks und tranken blaue Limo, bevor sie zu Choregraphien mit Selfiesticks ansetzten. Die ästhetische Exkursion durch das Reich des Plastik-Trash verließ Santigold während des gesamten Konzerts nicht und bestärkte mich damit in dem Glauben, dass jede Art von "Shopping" für mehr Menschen als nur für mich ein Albtraum ist.
Drone bomb me Baby, no Bizzness like Showbizznes
Anohni Live:
15.7. am Colours Of Ostrava Festival
Mit elf lange schon Realität gewordenen Untergangsszenarien konfrontiert uns Anohni auf ihrem Album "Hopelessness". Bevor sie selbst komplett verhüllt in einem schwarzen Kapuzenmantel die Bühne betritt, müssen wir einer der laut Übereinkunft der Mode- und Lifestyle-Branche schönsten Frauen der Welt, Naomi Campbell, geschmückt mit schwarzer Dornenkrone, zusehen, wie sie sich verführerisch räkelt. Nach 15 Minuten geht mir das derart auf die Nerven, dass ich Anohni schon den konzeptuellen Ansatz unterstellen möchte, uns so lang mit jemandem angeblich Schönen und Begehrenswerten, der uns anflirtet, zu sekkieren, bis es unerträglich wird, bis das Volk endgültig zu viel Kuchen hat.
Den Rest des Anohni-Konzerts sehen wir intensive Emotionen vermittelnde Frauengesichter, teilweise weinend. Ich hätte Anohni gerne einen Screenshot von meinem Gesicht gesendet, als ich am übernächsten Tag bei meiner Rückkehr vom Sónar Naomi Campbell, die eben noch im "Drone Bomb Me"-Video um die sterbenden Kinder Afghanistans weint, in den österreichischen Gratiszeitungen erblicke.
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