Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Gently Out of Time, violently on the point"

Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

19. 6. 2016 - 16:02

Gently Out of Time, violently on the point

Gazelle Twin, Lady Leshurr, The Black Madonna. Die spannenden Narrative elektronischer Musikerinnen dominieren den ersten Tag der Sonar.

Die Sonar beginnt für mich mit einer Suspendierung der Uhrzeit, was auch notwendig ist, bedenkt mensch, dass das Festival, das sich die Kompetenzen Musik, Technologie und Kreativität auf die Fahnen, Plakate und Banner geschrieben hat, bis Sonntag 20 von 24 Stunden Programm bietet. Die meisten der Konzerte werden webgecastet. Strand bringt das Frickeln aus der düsteren Sonar Hall in mein ebenfalls abgedunkeltes Hotelzimmer. Traditionsgemäß beiße ich mir beim Versuch, eine Flasche zu öffnen, einen Zahnteil und komme wegen der nichteinkalkulierten Wehklagezeit zu spät zum Set von Lady Leshurr, was kein großes Kunststück ist, bei einer Konzertdauer von 30 Minuten. Lady Leshurr vertritt eine neue Generation von weiblichen Grime MCs, die männliche Kollegen wie die Section Boyz, die ich 48 Stunden später hören werde, locker wegbläst.

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Gefeiert und zelebriert wird Musik bei jedem Auftritt von der Chicagoer DJ The Black Madonna. Sie beginnt mit einer Salsa Nummer, unter die sie einen Chicago House Beat legt, macht weiter mit 80er Jahre Freestyle Nummern und als der erste bassgesättigte Housebeat kommt, schmeißen die im Hof der Messehallen Open Air Tanzenden alles was sie so zur Verfügung haben in die Luft. The Black Madonna ruht sich auf der Klimax nicht aus sondern mischt schnell in einen düsteren, an Carpenter erinnernden Track. Bei all den schnellen Wechseln zwischen Substilen ist die Sorgfalt und das musikhistorisch gesättigte Fingerspitzengespür von The Black Madonna hörbar. Sie betont Brüche in gleicher Weise wie Verbindungslinien die sich durch die Geschichte elektronischer Tanzmusik ziehen.

Von tanzenden Festivalbesucherinnen um die 30 plus geht es zu zwei wackelnden Zombies in den düsteren Bauch der Tagungszentrumshallen die die Sonar bei Tag beherbergen.

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Die Musikerin und Performance Künstlerin Gazelle Twin hat die Premiere eines neuen Stücks „Kingdom Come“ angekündigt. Kingdom Come beruht auf einer Kurzgeschichte von J.G Ballard, eines auf Dystopien der nahen Zukunft spezialisierten Autors. Eine Zukunft so nahe, dass sie vielleicht schon eingetreten ist. Mensch betritt den verdunkelten Saal, zwei Fitnesslaufbänder stehen auf der Bühne, dahinter weiß auf rotem Hintergrund: The Suburbs Dream of Violence.

Zu langsam anschwellendem Rauschen taumeln zwei Gestalten, die direkt aus George Romeros Debüt Dawn of the Dead gekommen sind, auf die Bühne. Kingdom Come ist ein audiovisuelles Stück, das auf drei Ebenen gespielt wird: der akkustisch musikalischen, der Performance von Gazelle Twin und ihrem Partner und den Videos. Zu Beginn sind es U-Bahn Tunnels, Neonlichter, menschenleere Rolltreppen. Die kalte verlassene Architektur der in die Vorstädte führenden Verkehrsadern funktioniert als Metapher der seelischen Ruinen ihrer Bewohnerinnen. Die zwei Protagonistinnen singen am Laufband auf der niemals endenden Schleife hinein ins suburbane Wasteland.

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Die Intensität der Performance steigert sich, als die Projektionen zu Bildern aus Überwachungskameras von Shoppingcentren wechseln, mensch sieht Gewaltausbrüche in der uns Sicherheit versprechenden, konsumunfähigen, ausschließenden Welt der Shoppingcenter. Menschenmassen, die plündern, am Boden Liegende, die von Sicherheitspersonal mit Elektroschockern gequält werden.

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Die Protagonistinnen auf der Bühne knien, während die Massen auf der Leinwand plündern oder zum Supersale drängen. Mit einem apokalyptischen Einblick in eine übersättigte und doch nie befriedigte Begehrensökonomie verabschieden sich Gazelle Twin zombiehaft wankend durchs Publikum, sie tragen Bürokostüme und Perücken und trotz der Nähe kann man ihre Gesichter nicht erkennen, sieht nicht, ob sie Masken tragen oder nicht und so beschließe auch ich etwas wankend den ersten Tag der Sonar.