Erstellt am: 17. 6. 2016 - 18:58 Uhr
Dachkraxlerin
Eine athletische junge Frau im coolen Sport-Outfit hechtet über sonnenbestrahlte Häuser einer Metropole. Das System ist korrupt, die Bürger_innen werden konstant überwacht. Faith, so der Name der Titelheldin, arbeitet im Untergrund und überbringt als sogenannter Runner Informationen. Per Pedes und offline - also ohne, dass sie vom System entdeckt werden kann. Es ist eine Dystopie, die in Bezug auf die technologischen Möglichkeiten eigentlich schon seit ein paar Jahren Realität ist.
Als Ende 2008 das originale "Mirror's Edge" erschienen ist, war es aber weniger ein Orwell'scher Warnruf, sondern vor allem ein ästhetisches Erlebnis. Weiß, rot und blau waren die Kernfarben, die sich durch die gesamte Darstellung des Spiels gezogen haben. Das hat bei Faiths Hose begonnen und zog sich bis zur Skyline der Stadt, durch die wir gesprungen, geschwungen und geschlittert sind. Die Freude an der Bewegung war das Kernelement von "Mirror's Edge", und zur damaligen Zeit wurde es technisch überzeugend umgesetzt.
"Mirror's Edge" (2008)
Der wirtschaftliche Erfolg von "Mirror's Edge" war jedoch mäßig. Weil das Spiel von EA verlegt wurde, einem der kommerziell berechenbarsten und deshalb unbeliebtesten Games-Konzerne, sind Spieler_innen und Fachpresse davon ausgegangen, dass es bei einem einmaligen Experiment bleiben würde. Dennoch ist diese Tage - auch aufgrund zahlreicher Fan-Bitten - ein später Nachfolger erschienen: "Mirror's Edge: Catalyst". Er erzählt die Vorgeschichte von Faith: Sie ist festgenommen und eingesperrt worden und bei Beginn des Spiels wieder auf freiem Fuß. Faith trifft sich im Versteck des Untergrunds und beginnt, erste Botendienste zu laufen.
"Mirror's Edge: Catalyst" (2016)
Kein technischer Fortschritt
Was beim neuen "Mirror's Edge" als erstes ins Auge sticht, ist die visuell beinahe unveränderte Darstellung. Es war zwar nicht notwendig, an der markanten Optik des Originalspiels etwas zu verändern, dennoch ist es seltsam, dass bei einer Games-Großproduktion (Kostenpunkt 70 Euro) über sieben Jahre später kein deutlicher technischer Fortschritt zu sehen ist. Gerade, wenn man auf der Playstation 4 zuvor noch das visuell herausragende "Uncharted 4" gespielt hat, ist man herbe enttäuscht, wenn man kurz darauf die verwaschenen Texturen von "Mirror's Edge: Catalyst" sieht. Cutting edge ist anders.
Drumherum
- Das Linzer Lauf-App-Unternehmen Runtastic hat zum Spiel einen eigenen Modus namens "Story Running" veröffentlicht.
- Die schottische Indie-Pop-Band CHVRCHES hat mit "Warning Call" den Titelsong geliefert.
Spielerisch hat sich ebenfalls wenig verändert. Faith setzt unsere Controller-Anweisungen immer noch höchst agil aus der Egoperspektive um. Das fühlt sich glaubwürdig und dynamisch an, das Geschwindigkeitsgefühl ist weiterhin gut umgesetzt. Aber auch hier gilt: Das Beibehalten des Status Quo sollte für einen Nachfolger, vor allem nach so langer Zeit, ja eigentlich nur die Grundlage sein. Neu hinzugekommen ist immerhin ein Schwungseil, das uns über größere Abgründe bringt und ein Levelsystem, wo nach dem Abschluss bestimmter Missionen neue Fähigkeiten (besseres Abrollen, mehr Lebensenergie, usw.) freigeschaltet und von uns verteilt werden können. Weiterhin dabei ist die "Runner Vision", ein Navigationssystem, das uns mittels rot markierter Linien und Gegenstände den Weg über die richtigen Dächer weist.
EA / DICE
Karikaturen in der Open World
Die größte Neuerung abseits des Gameplay ist, dass "Catalyst" (im Vergleich zum Vorgänger) ein Open-World-Spiel ist. Das bedeutet, dass wir die "Runner Vision" zwar nutzen können, aber nicht müssen. Ein freies Herumlaufen und Erkunden ohne Ziel und Auftrag ist möglich, wird aber schnell langweilig, da die architektonischen Elemente des Spiels sich oft wiederholen und einzelne Orte und Wege deshalb nicht besonders einprägsam sind.
Also sehen wir uns die Missionen näher an: Wie in Action- und Rollenspielen à la "Grand Theft Auto" oder "The Elder Scrolls: Skyrim" ist die Karte schon sehr bald mit vielen unterschiedlichen Symbolen übersät, die verschiedene Events anzeigen. Neben den Missionen der Kampagne gibt es Nebenmissionen, Time-Attack-Läufe (oft User-generiert) und einen Haufen Sammelaufgaben. Trophäenjägern gefällt das.
"Mirror's Edge: Catalyst" ist für Windows, Playstation 4 und Xbox One erschienen. Wir haben auf der PS4 gespielt.
Eine Sandkiste, die uns ständig dazu auffordert, in ihr diverse Dinge zu absolvieren, fühlt sich schon nach kurzer Zeit mehr wie Arbeit und weniger wie ein Spiel an. Dauernd werden wir aus unserem Lauf gerissen, weil wir nachsehen müssen, welchen steif dargestellten Nichtspielercharakteren wir was wohin bringen müssen. Diese fragmentierte Gestaltung der Missionen und Inhalte führt dazu, dass auch die in "Catalyst" erzählte Geschichte leidet.
Das Setting wird einem ja schnell klar: Hier ist ein repressives System, das alle Menschen kontrollieren und sie via überhöhtem Kapitalismus an der kurzen Leine halten möchte. Dort ist die Untergrundbewegung, die den Menschen die Augen öffnen will. Allerdings sind sowohl das System als auch der Widerstand so schablonenhaft und zahm gezeichnet, dass all das eher wie eine langweilige Karikatur wirkt als eine ernstzunehmende Erzählung von Unterdrückung, Überwachung und eine Auflehnung dagegen. Die Figuren und Dialoge sind belanglos, die Gegner austauschbare Bullys mit Schlagstöcken. "Gehackt" wird, indem man ein paar Sekunden die Hand auf ein Display legt oder irgendwelche Steckmodule aus Sicherungskästen zieht.
EA / DICE
"Mirror's Edge" und Protagonistin Faith sind weiterhin toll, doch es stellt sich die Frage, ob es dafür dieses neue Spiel braucht. Einfacher und kostengünstiger ist es, das Originalspiel ein weiteres mal zu erleben - denn "Catalyst" hat dazu wenig Relevantes hinzuzufügen. Dennoch ist es erfreulich, dass ein Spiel mit unkonventionellem Gameplay und einer coolen Hauptdarstellerin nicht in Vergessenheit geraten ist.