Erstellt am: 16. 6. 2016 - 20:25 Uhr
Wo wir sind.
Die Unterhausabgeordnete Jo Cox, die heute in Birstall erschossen und erstochen wurde, hatte gerade ihre „surgery“ abgehalten. So heißen die Sprechstunden, die britische Abgeordnete für Menschen in ihrem Wahlkreis geben.
Man muss das erwähnen, um sich daran zu erinnern, wie zugänglich und menschenfreundlich die britische Demokratie von ihren besten Seiten sein kann. Man kann mit seinen Politiker_innen sprechen, Fragen stellen, und es ist ihre Pflicht, einem Antwort zu geben.
Dass einer sich genau diesen Zeitpunkt und diesen Ort aussucht, um eine Politikerin zu ermorden, ist ein Tabubruch, von dem sich dieses System nur schwer erholen wird können.
Mit Absicht habe ich hier bisher noch nicht über den Kontext gesprochen.
Es heißt, der Mann, der Jo Cox umbrachte, habe „Britain First!“ gerufen, und natürlich ist der offensichtliche Hintergrund dafür das verdammte "Brexit"-Referendum und der Hass, den es an die Oberfläche gespült hat.
Brendan Cox
Cox war eine jener Labour-Abgeordneten, die am leidenschaftlichsten für einen Verbleib Großbritanniens in der EU eintraten. Sie engagierte sich auch aktiv für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge.
Und natürlich besteht ein spürbarer Zusammenhang zwischen dem Mord an ihr und diesem Post einer seit zwölf Jahren hier lebenden Deutschen, den ich heute in den Sozialen Medien verbreitet habe. Bitte lest euch das durch, alles ist wahr.
Die Sozialen Medien. Es entbehrt nicht der Ironie, was ich in einigen der ersten Reaktionen auf Jo Cox' Mord las, nämlich dass das alles mit dem in Sozialen Medien geschürten Hass zu tun hat.
Ironisch deshalb, weil ich es natürlich in den Sozialen Medien las.
Es stimmt schon, Facebook, Twitter etc. gehören zu den gefährlichsten Werkzeugen, die skrupellosen Demagog_innen, Faktenfälscher_innen und Volksverhetzer_innen je in die Hände gegeben wurden.
Aber es sind wir selbst, die sie mit Dreck befüllen und in ihnen isolierte Blasen der selbst gewählten Ignoranz bilden.
Und abgesehen davon reichen schon die Titelblätter von fünf Sechsteln aller britischen Tageszeitungen, ganz zu schweigen vom Blattinneren, um den Hass zu schüren. Und seit das Referendum näher rückt, tun sie dies Tag für Tag für Tag für Tag.
Das hier war die heutige Schlagzeile der gefährlichsten Zeitung Großbritanniens, der "Daily Mail".
Daily Mail
Nein, es gibt keine Ausrede für den rassistischen und xenophoben Schwachsinn, der das Klima in Großbritannien vergiftet. Und ich kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau sagen, ob der Mord an Jo Cox direkt damit zu tun hat. Aber ich spüre das Klima rundum, und es macht nicht nur mir Angst, sondern auch vielen meiner englischen Freund_innen. Sie sagen mir das schon den ganzen Tag in den Sozialen Medien, die in den richtigen Händen übrigens tatsächlich etwas enorm Soziales sein können.
Im Moment wissen wir nicht, wie wir da je wieder rauskommen.
Aber fürs Erste haben beide Kampagnen zum kommenden Referendum ihre Aktivitäten ausgesetzt. Das ist vielleicht ein Anfang. Ich hoffe es.