Erstellt am: 17. 6. 2016 - 10:56 Uhr
Ein Gefühl für die Stadt
Manche Orte tauchen nur in unserer Wahrnehmung auf, wenn etwas Schreckliches dort passiert. Das weiß auch der Schriftsteller Bilal Tanweer nur zu gut, dessen Heimatstadt, die pakistanische Metropole Karatschi höchstens wegen Terroranschlägen in westlichen Medien vorkommt. So wundert es nicht, dass er für seinen Debütroman "Die Welt hört nicht auf" ein Bombenattentat an der Cantt Station, einem zentralen Bahnhof in Karatschi, wie es 2012 eines gegeben hat, zum Anker seiner Erzählung über Karatschi macht.
Schönheit des Schreckens
Carl Hanser Verlag
Doch beginnen lässt Tanweer seinen Roman mit dem Bild einer zerschossenen Windschutzscheibe, wo rund um das Einschussloch ein Gespinst aus kantigen, gezackten Linien entstanden ist, zwischen denen, dicht an dicht, winzige Kristalle sitzten. Diese Windschutzscheibe, so schreibt er, sei die Metapher für seine Welt, diese Stadt: "Kaputt, schön und aus brutaler Gewalt geboren."
Die zerschossene Windschutzscheibe ist aber nicht nur nützliche Metapher, sondern auch Tanweers literarisches Programm. Das Einschussloch, das zentrale Ereignis, ist oben genannter Sprengstoffanschlag. Bilal Tanweer schaut aber nicht so sehr auf das Ereignis, dessen Hergang oder Konsequenzen, er konzentriert sich auf das Muster drumherum, sammelt Splitter und Späne und folgt den Rissen in der Scheibe, zeichnet Fragmente auf.
Den Lebenslinien nach
Wenn man in der Metapher bleibt, dann sind zwei der ganz großen Risse die Geschichten zweier Menschen, die der Autor, der als solcher im Roman auch auftritt, bei dem Attentat verloren hat. Der eine nennt sich Genosse Sukhansaz und ist ein alter, kommunistischer Dichter, der für seine Ideale und den Kampf für eine gerechtere Gesellschaft ins Gefängnis gegangen ist und die Beziehung zu seiner Familie geopfert hat. Der andere ist ein alter Schulfreund des Autors, Sadeq, der sein Geld mittlerweile als zwielichter und skrupelloser Geldeintreiber verdient.
Durch Geschichten aus ihrem Leben und von Personen in ihrem Umkreis nähert sich Tanweer Karatschi an. Was er dabei zeichnet, ist ein Bild einer konservativen, patriarchalen und streng religiösen Gesellschaft in einer dreckigen Stadt, voller selbstzerstörerischer Kraft. Alle BewohnerInnen werden hier im Laufe ihres Lebens Opfer eines Verbrechens und die Polizisten, die das verhindern sollen, sind korrupt.
Keine Happy Ends?
Das Gefühl, mit dem der Autor Karatschi beschreibt, ist ein Gefühl fortwährender Verluste und selbst die Märchen, die sich die Protagonisten erzählen, bleiben in dieser Stadt ohne Happy End. Dass er die Einmischung der Religion in sämtliche Lebensbereiche dafür hauptverantwortlich macht, lässt er gleich mehrere seiner Protagonisten lautstark erzählen.
Doch nicht alles ist dunkel in Bilal Tanweers Karatschi und der Sprengstoffanschlag ist nicht die Apokalypse, "Die Welt hört nicht auf", sagt schon der Titel der deutschsprachigen Übersetzung, es gibt auch Lichtblicke: Verliebte, die auf Konventionen pfeifen und sich Freiräume schaffen; Kinder, die sich mit viel Fürsorge um ihre alten Eltern kümmern; Gefallene, die wieder aufstehen; der Duft guten Essens oder Entspannung am Meer.
Faszination vs. Liebe
Bilal Tanweer bzw. die Figur des Autors im Roman versucht die Stadt auf unterschiedliche Arten und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, weil das die einzige Möglichkeit sei, sie in sein Herz schließen und lieben zu können. Zumindest habe er es so von seinem Vater gelernt. Dass dadurch allerdings ein verschlungener Strang von Stimmen entsteht, kann beim Lesen ganz schön anstrengend sein. Nur wenn man ganz genau hinsieht, kann man die Fäden heraustrennen und die Knoten freilegen, wie vom Erzähler beabsichtigt. Wer sich darauf einlässt, wird wohl nicht unbedingt dieselbe Liebe für Karatschi wie der Autor entwickeln, vielleicht aber eine ähnliche Faszination.