Erstellt am: 10. 6. 2016 - 12:14 Uhr

The daily Blumenau. EM-Journal '16-19, 10-06-16.

Die Letzten werden die Ersten sein: Veranstalter Frankreich ist der eigentlich logische Favorit für diese Euro.

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Normalerweise, wenn einer großen Mannschaft so viel an nicht so Lässigem widerfährt vor einem großen Turnier, würde man sich vor lauter schlechtes-Omen-Gerede und vor lauter das-schwächt-die-Mannschaft-aber-massiv-Relativierung gar nicht mehr raussehen. Im Fall von Frankreich vor seiner Heim-Euro aber hört man nichts dergleichen. das hat weniger mit einer eingeschränkten Lust einer tratsch- und mieselsüchtigen Öffentlichkeit oder der es ihnen gleichtuenden Überspitzungs-Maschinen, der Boulevard-Medien zu tun, sondern wohl mit der Tatsache, dass es die Equipe letztlich nicht anficht. Und das kann nur heißen: Frankreich ist für alle Top-Favorit.

Sex, Lügen und Videos...

Was ist alles geschehen?
Die Kollegen und Freunde Valbuena und Benzema verstricken sich in eine extrem dümmliche Affäre um Sex-Videos (Valbuena nimmt sich und seine Freundin beim Pudern auf) und Erpressung (Benzema taucht im Namen nicht näher genannter "Freunde" auf, die das Video gegen ein wenig Schweigegeld nicht veröffentlichen würden, und übernimmt die Verhandlungen).

Benzema, die Nummer 1 im Angriff, hält sich für so unantastbar (und verfügt gleichzeitig über sowas von keinem Schuldbewusstsein), dass er die Suspendierung wegen laufender juristischer Untersuchungen nicht nur für lachhaft hält und keinen Grund sieht nicht mitspielen zu dürfen, er konstruiert ein paar Tage vor der Euro auch noch eine allgemeine Attacke mit der Rassismus-Keule: er und der nur auf Abruf nominiert Ben-Harfa würden wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert.

Der Boulevard übernehmen den verbalen Haufen Schrott (der instabile Ben Arfa war bei nur zwei Vorbereitungs-Spielen dabei, hatte nie eine reale Kader-Chance; weit mehr als die Hälfte des Kader ist schwarz, mit Rami wurde ein Sohn nordafrikanischer Einwanderer nachnominiert). Zusätzlich aufmunitioniert wird dieses Nachtreten durch unüberlegte Ansagen des Marseiller Stadtheiligen Eric Cantona, der Trainer Didier Deschamps als gedankenloses Weißbrot beschimpft.

Ein anderer Problemboy, was Gerichte, Lügen und Videos betrifft, Franck Ribery nämlich, erklärt erst kürzlich seinen Rücktritt vom Rücktritt aus der Nationalmannschaft, nur um dann, als ihm klargemacht wird, dass er trotzdem nicht nominiert wird, noch einmal zurückzutreten. Und auch nachzutreten.

Mamadou Sakho, Abwehr-Recke bei Klopps Liverpool, leistet sich eine positive Doping-Probe (illegale Fatburner), verzichtet auf die Gegenprobe, wird dann von einer laschen Fußball-Justiz freigesprochen/reingewaschen, hat aber sein Mittun bei der Euro damit verwirkt.

Vor Sakho war mit Kurt Zouma bereits ein möglicher Innenverteidiger verletzt ausgefallen, nachher folgten noch Mathieu (Barca) und, am schwerwiegendsten Raphael Varane, der Jungstar von Real. Mit dem jungen Umtiti musste jetzt einer aus der vierten Linie nachnominiert werden.

... und vier ausgefallene Innenverteidiger

Kurzfristig ausgefallen ist auch Lassa Diarra, den Stabilisator im Mittelfeld. Und trotzdem ist all das allen herzlich wurscht. Trotzdem steht da heute ein Mannschaft auf dem Feld, über die und mit der sich jeder freut - und niemand denkt den vergangenen Unbill auch nur eine Sekunde mit.

Das hat zwei Gründe.
Zum einen betreffen die Ausfälle (bis auf Varane) eher die alte Garde; und sie machen Platz für die nachrückenden Kräfte, in die viele Hoffnungen gesetzt werden. Auf Standard-Künstler Dimitri Payet, auf den grandiosen Antoine Griezman, die junge Flügelzange Martial-Coman, auf N'Golo Kante, den Taktgeber von Leicester City. Darauf, dass Olivier Giroud sich endlich von Benzemas Schatten freispielt. Und auf Paul Pogba, den neuen Chef, den besten jungen Spieler der WM 2014.

Zum anderen sind sowohl die personelle Qualität als auch das Selbstvertrauen hoch genug. Und das, obwohl Frankreich ja keine Qualifikation spielte, und sich so auf kompetativem Level messen konnte. Obwohl: das stimmt so ja nicht. Erstmals liess die UEFA den Ausrichter in einer Quali-Gruppe mitlaufen - Frankreich bekam es so in der Portugal-Gruppe noch mit Dänemark, Albanien oder Serbien zu tun, konnte sich also besser einspielen als jeder andere Euro-Gastgeber zuvor.

Didier Deschamps hat sich - auch weil er die Spieler dazu hat - auf ein 4-3-3 mit drei starken zentralen Mittelfeldspielern und ausgewiesenem Flügelspiel festgelegt.

Reden wir nicht dumherum: das ist der potentielle Gewinner

Die einzigen Schwachpunkte: das Alter/die nachlassende Klasse der beiden Außenverteidiger, Bacary Sagna und Patrcie Evra sind exzellente Spieler, aber eben schon 33 und 35, und das auf laufintensiven Positionen. Ihre Back-Ups sind mit Jallet bzw Digne keine Granaten. Gemeinsam mit den vielen Innenverteidiger-Ausfällen, die jetzt Koscielny einen ungewohnten Partner bescheren, kann sich das auswirken. Kann, muss nicht.

Mit Tormann und Kapitän Lloris dahinter und Pogba-Kante-Matuidi sowie Griezman-Giroud-Payet davor verfügt Frankreich über eine klare strukturierte Ausrichtung, die von einem formstarken Personal exzellent (und auch taktisch klug) ausgeführt werden. Im direkten Vergleich können da gerade noch Deutschland und Spanien und ansatzweise England mithalten.

Genau das - und die Tatsache des Heimvorteils - machen die Equipe Tricolore dann zum, reden wir nicht herum, Turnier-Favoriten.

Es ist übrigens die nominell dritte Heim-Euro für die Tricolore, die erste davon, 1960, kann man aber nicht ernsthaft zählen: da spielten vier Mannschaften drei Matches in Paris und Marseille. Die zweite dann, 1984, brachte Frankreich den ersten von drei großen Titeln. den im übrigen eine Mannschaft einfuhr, die über eine herausragende Abwehr, das vielleicht beste Mittelfeld aller Zeiten, aber einen mäßigen Angriff verfügte. Soll heißen: potentiell ist die heurige Auswahl da sogar besser gestellt. jetzt ginge es nur noch als Liefern.

Das sagt sich leicht, klar, aber: Frankreichs Vorteil besteht darin, dass man kein Problem damit hat als Favorit das Spiel zu machen, aber auch nicht weinend zusammenbricht, wenn ein gleich starker Gegner einen unter Druck setzt.

In der Gruppe A werden sie dreimal auf Beton stoßen. Albanien, wohl auch die Schweiz und heute Abend Rumänien werden weit hinter stehen, alle drei werden es mit unterschiedlichen Strategien und Systemen versuchen, Frankreich wird zuerst ein defensiv zu einem 4-5-1 gerinnendes 4-2-3-1 (von Rumänien) bespielen müssen, dann ein von vorherein als 4-5-1 angelegtes (von Albanien) um den ersten Platz mit 6 erzielten Punkten abzusichern.

Sie werden, nachdem sie dann im Achtelfinale auf Gruppendritten ausgeschaltet haben, im Viertelfinale womöglich auf Österreich treffen, sofern das ÖFB-Team als Gruppen-Zweiter den Gruppen-Zweiten der England-Gruppe geputzt hat. Es zahlt sich also in jedem Fall aus, sich mit Frankreich 2016 zu beschäftigen.

Bestformation: Lloris; Sagna, Koscielny, Rami/Mangala, Évra; Pogba, Kanté, Matuidi; Griezmann/Coman, Giroud, Payet/Martial.

Finalkader: Hugo Lloris (Tottenham/ENG), Steve Mandanda (Marseille), Benoît Costil (Rennes); Bacary Sagna, Eliaquim Mangala (Manchester City/ENG), Christophe Jallet, Samuel Umtiti (Lyon), Laurent Koscielny (Arsenal/ENG), Adil Rami (Sevilla/SPA), Patrice Évra (Juventus/ITA), Lucas Digne (Roma/ITA); Yohan Cabaye (Crystal Palace/ENG), N'Golo Kanté (Leicester City/ENG), Blaise Matuidi (Paris Saint-Germain), Paul Pogba (Juventus/ITA), Moussa Sissoko (Newcastle/ENG), Morgan Schneiderlin (Manchester United/ENG), Dimitri Payet (West Ham/ENG), Kingsley Coman (Bayern/DEU), André-Pierre Gignac (Tigres/MEX), Olivier Giroud (Arsenal/ENG), Antoine Griezmann (Atlético Madrid/SPA), Anthony Martial (Manchester United/ENG).

Euro-Extra:

Österreich-Bezüge haben diese sieben Teilnehmer...

1) Jan Novota (3. Goalie Slowakei - spielt bei Rapid)
2) Dusan Svento (Zweiter Linksverteidiger Slowakei - einst bei RB Salzburg, zuletzt unter Stöger/Schmid beim FC Köln)
3) Peter Gulacsi (3. Tormann Ungarn, war einst bei RB Salzburg, jetzt bei RB Leizpig)
4) Ante Coric (Jungstar auf Kroatiens Ersatzbank - verbrachte seine Jugend bei RB Salzburg, jetzt in Zagreb)
5) Mateo Kovacic (jetzt Real Madrid-Wunderkind, geboren in Linz, aufgewachsen beim LASK, dann schnell retour nach Zagreb)
6) Gordon Schildenfeld (dritter Innenverteidiger bei Kroatien - vormals bei Sturm Graz, dann Deutschland, Russland, Griechenland, jetzt auch in Zagreb)
7) David Lafata (womöglich im starting lineup bei Tschechien, dritter Frühling bei Sparta Prag)