Erstellt am: 7. 6. 2016 - 11:36 Uhr
"Golden Days Before They End"
Klaus Pichler
Das Fotobuch "Golden Days Before They End" ist in der Edition Patrick Frey im Buchhandel erhältlich.
Das Wiener Beisl wird im Volksmund gerne Brandineser, Branntweiner, Hüttn oder Tschocherl genannt. Reingehen wollen aber die wenigsten. Und deshalb sind die Beisln in der Wiener Lokalszene vom Aussterben bedroht.
Von Draußen erkennt man die Beisln an ihrem dicken, von Rauch vergilbten Schaufensterglas, bei dem man weder rein noch raus sehen kann. Oder anhand eines verfallenen Schriftzugs an der Häuserwand. Das laute Gelächter, das man beim Vorbeihuschen durch die angelehnte Tür hört, ist größtenteils Vergangenheit. Die Beisln mit ihren charmanten Namen sind ein Relikt einer längst vergangenen Zeit, in die man nostalgisch zurückblickt.
Klaus Pichler
Zeitgleich verändert sich in Wien das Stadtbild rasant. Jede Menge neuer Szenelokale, Eisdielen und Burgerläden werden eröffnet. Europa und die vielen Studenten hinterlassen ihre Spuren, immer mehr Bewohner verwirklichen in Wien ihre Ideen. Neue Möglichkeiten, neue Seiten und neue Welten entstehen. Hinzu kommen Gesetzesänderungen wie das Rauchverbot und die Registrierkassenpflicht, die dem Alten zu Schaffen machen.
Wie sieht es bei den deutschen Nachbarn aus?
In Berlin sind die typischen Eckkneipen immer noch sehr beliebt, vom Aussterben spürt man hier nichts. Grund dafür sind vor allem die niedrigen Preise. In der "Simone" in Neukölln an der Pannierstraße hängen an den Bilderwänden auch viele Fotos von jungen Gästen. Das "Bäreneck" in Neukölln oder das "Quelleck" in Mitte sind Institutionen, zu jeder Zeit kann man dort Dart spielen, trinken und zur Jukebox-Musik tanzen. Schon lange teilt sich der Stammgast mit Hipstern die verqualmten Quadratmeter und sinniert im Gleichklang.
Alltag, Wahnsinn, Drama
Es ist ein natürlicher Prozess und für genau diesen interessieren sich der Fotograf Klaus Pichler und der Journalist Clemens Marschall (Herausgeber des Magazins "Rokko's Adventures") . Ihr neuer Fotoband "Golden Days Before They End", an dem sie seit 2012 arbeiten, zeigt nämlich die aussterbende Gattung der Wiener Beisln und Tschocherln und erzählt von den Menschen, die dort täglich Zeit verbringen. Zwischen Alltag, Wahnsinn und Drama. Eine gelungene Observation ohne Berührungsängste!
"Jeder, der vor der Bar ist, wurde fotografiert, jeder, der hinter der Bar ist, wurde interviewt."
Das Duo veröffentlichte schon einen Fotoband, in dem sie "Hefen-Peckerl", also Gefängnistattoos zeigen. Sie bewegen sich mit ihren Projekten in Randmilieus, mit teilweise stark ausgegrenzten Persönlichkeiten. Genau diese dokumentieren sie mit viel Gefühl für die Nachwelt.
Klaus Pichler
"Das Cafe Lambada in der Neubaugasse zieht viel Laufpublikum an, das Beisl wird es bestimmt noch lange geben", erzählen Pichler und Marschall.
Zu gerne stellt man sich das Beisl als eine Art Sumpf vor, in der man wie Homer Simpson in Mo´s Taverne versinkt und nicht mehr rauskommt. Aber ist es wirklich so? Bei einem kurzen Selbstversuch wird man das wahrscheinlich nicht erfahren. Pichler und Marschall erzählen vielmehr davon, dass die Tschocherln soziale Hotspots sind, eine Anlaufstelle für Menschen, die zu Hause vereinsamen und in diesen zehn bis zwanzig Quadratmetern großen Beisln sozialen Halt finden.
Wenn ein Stammgast zum Beispiel frisch aus dem Gefängnis kommt, bieten ihm viele Beisln kostenlos etwas zu Essen und zu Trinken an, bis er wieder einen Job gefunden hat. Manche helfen ihm sogar dabei, Möbel zu finden.
"Wirte und Wirtinnen haben eine große Funktion. Sie sind die Schulter, an der man sich ausweint, sie schenken einem immer ein offenes Ohr und verstehen sich als Informationsweitergabestelle. Also wenn ein Stammgast etwa drei Tage nicht mehr auftaucht, dann wird Nachschau gehalten, ob dieser noch lebt."
Es besteht eine existenzielle Hilfe, eine kleine gemeinsame Welt, in der man sich gegenseitig unterstützt und Gefallen tut. Meistens ist es eine Ersatzfamilie. Eine, die trinkt.
Der Dolby Surround und der Schlapfen-Charlie
Buchpräsentation
"Golden Days Before They End" mit einem Live-Auftritt von Voodoo Jürgens
am 7. Juni 2016, 19 Uhr
im Gasthaus Praschl in der Quellenstrasse 39 im 10. Wiener Gemeindebezirk.
Anfahrt: Straßenbahn-Linie 6, Station Absberggasse (10 Gehminuten von U1 Reumannplatz)
Selbst im desolatesten Zustand gibt es ein Auffangbecken. Fast jedes Beisl hat ein Hinterzimmer mit Couch, zum Übernachten oder Ausnüchtern. Oft zahlen Wirte und Wirtinnen das Taxi nach Hause.
"In zwei Lokalen gibt es Sturzhelme wegen einem Gast, der hin und wieder hinfällt, wenn er betrunken ist und wenn er zu Fuß nach Hause geht, setzen sie ihm den Sturzhelm auf und am nächsten Tag bringt er ihn wieder zurück."
Das Beisl erscheint als eine Art Parallelgesellschaft mit oft schrulligen Details und Spitznamen:
"Der Dolby Surround, er wird so genannt, weil er so laut redet oder der Schlapfen-Charlie, weil er immer so Schlapfen trägt." Hinter den Spitznamen wie Moldi, Futzi, Quasimodo, Bonsai-Peppe oder Falten-Charlie steckt eigentlich Zuneigung, wenngleich sie rau klingen.
Und der Fotograf Klaus Pichler hat den Namen "Der Klaus, der Fotograf mit dem Soda Zitron" bekommen. Getrunken haben die beiden eigentlich nie während ihrer Arbeit an dem Buch, obwohl es nahe gelegen wäre.
Klaus Pichler
Nicht-Trinken in Österreich
In einer alkoholpermissiven Gesellschaft wie Österreich ist es teilweise noch schwierig, Nicht-TrinkerIn zu sein. Ich weiß es aus eigener Erfahrung, in keiner anderen Stadt musste ich mich so oft für das Nicht-Trinken erklären wie in Wien. Das Golden Days-Duo erzählt, dass genau an diesen Orten nach keiner solchen Erklärung verlangt wird.
"Alkohol ist zwar omnipräsent, aber wird nicht thematisiert. Wenn man keinen Alkohol trinkt, kommt eher ein positives Kommentar zum jungen Aussehen, als dass zum Mittrinken aufgefordert wird".
Wahrscheinlich ist es aber einfach eine Situations- und Typ-Frage. Und es ist ohnehin kein Geheimnis, dass einige Gäste der Krankheit Alkoholismus verfallen sind.
Auch ein Grund, warum das Wiener Beisl von der Bildfläche verschwindet:
"Die Hauptaussage ist, dass die goldenen Zeiten vorbei sind, die Trinkregeneration stirbt aus, mit den Gästen sterben die Wirte also auch die Lokale."
Bei ihrem Projekt besuchten die beiden mehr als 100 Lokale, von denen schon ungefähr ein Drittel geschlossen sind.
"Ich habe viele Portraits gemacht, die hängen jetzt an Pinnwänden in den Lokalen. Im ‘Tschwutschkerl’ zum Beispiel gib es jetzt fünf Pinnwände von mir, das ist mir eine große Ehre.", meint Klaus.
Klaus Pichler
Die Jungen können nicht richtig saufen
Vielleicht hat der Wirt Recht, den Klaus Pichler zitiert:
"Die jungen Leute wissen nicht mehr wie man säuft."
Weiters erzählt er von einer generell hörbaren Kritik der alten Trinker-Generation. "Heute fehlt das Gemeinsamkeitsgefühl. Früher war mehr Geld unterwegs, in jeder Branche wurde gut verdient, man hatte es leichter, Runden zu zahlen."
Eine digitale Zukunft, in der wir die Wirtin "Elfi" via App für die Jägermeister-Lokalrunde bezahlen, steht uns wahrscheinlich bevor. Aber hoffentlich in Kneipen mit Namen wie:
Tschwutschkerl, Hühnerstall, Engerlstüberl, Cafe Lilium, Zur Trenke, Don Waldo, Ratschkistüberl, Schmauswaberl, Romeo, Cafe Baby, Zum lustigen Eck, Cafe Alzheimer, Espresso Ricky, Donaustüberl, Cafe Lambada, Bonsai Peppi, Imbissbude Angst&Bang, Bierschnaberl oder Stehbeisl Helga.
All diese und viele mehr sind noch da, um gerettet, entdeckt und erlebt zu werden. Wer sich aber nicht traut oder wen es nicht ziert, dem wird der Fotoband wärmstens empfohlen. Denn die Bilder und Geschichten erzählen von einem charmanten Wahnsinn, von Mensch zu Mensch.
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