Erstellt am: 15. 6. 2016 - 11:10 Uhr
Postsowjetische Postapokalypse
Verfallene Plattenbauten, kommunistische Ruinen und von wuchernder Natur überwachsene Dörfer: Es gibt so etwas wie eine spezifisch osteuropäische Apokalypse, wie man sie aus Spielen wie "STALKER", "DayZ" oder "Metro 2033" kennt. Ein prominenter Schauplatz - und Inspiration - dieser Endzeitvisionen ist real und tatsächlich apokalyptisch: Vor exakt dreißig Jahren verwandelte die größte Atomkatastrophe der Geschichte die Landstriche rund um das ukrainische Atomkraftwerk Tschernobyl zur entvölkerten, strahlenden Wildnis.
Die in aller Eile verlassenen Stätten sowjetischen Alltagslebens sind heute längst zum Touristenmagneten geworden: Pripjat, die Stadt im Zentrum der Katastrophe, ist makaberes Ausflugsziel von Ruinenschauern aus aller Welt. Virtuell geht das schon länger: Schon 2007 setzten die ukrainischen Entwickler GSC Gameworld der Todeszone in ihrer Heimat mit "STALKER: Shadow of Chernobyl" ein spielerisches Denkmal.
Russische Ruinenmeditation
Der Titel des in zwei Teilen fortgesetzten legendären Kultspiels verrät auch gleich eine der Hauptinspirationen dieser speziellen Variante postsowjetischer Postapokalypse in der (Pop-)Kultur. Schon 1979 hatte der sowjetische Regisseur Andrei Tarkowski mit "Stalker" eine düstere Science-Fiction-Meditation über das trostlose (Über-)Leben in einer Endzeit aus Industrieruinen und trügerisch idyllischer Natur als Vorbild geliefert - ein Kultfilm, der auch heute noch durch seine zeitlose Ästhetik modern anmutet und ungeübte Zuseher durch seine Langsamkeit herausfordert.
Ausgangsstoff war dabei die SF-Kurzgeschichte "Picknick am Wegesrand" der russischen Autoren Boris und Arkadi Strugatzki gewesen. Die sowohl in der literarischen Vorlage als auch im Film stets präsente melancholische Atmosphäre lässt sich vor allem im Kontrast zu den westlichen Apokalypsen in ihrem Charakter bestimmen: Während von "Mad Max" bis "Fallout" immer wieder der Western als Erzählfolie durchscheint, in der einzelne Helden mehr oder weniger um den Wiederaufbau der Gesellschaft kämpfen, sind im Osten Melancholie und Fatalismus die zentralen Motive - es fällt schwer, nicht vom Klischee der traurigen "russischen Seele" zu sprechen.
Melancholische Endzeit
Der Erfolg von "STALKER: Shadow of Chernobyl" hat in gewisser Weise eine eigene atmosphärische Nische im Computerspiel hervorgebracht, die sich direkt sowohl auf die Avantgarde-Filmkunst Tarkowskis als auch die reale Katastrophe von Tschernobyl bezieht - auch wenn in den zahlreichen weiteren spielerischen Artgenossen die wenigsten Katastrophen so von der Realität inspiriert waren. "DayZ" entlässt seine Spieler in eine Zombieapokalypse, die topografisch ganz ohne Absicht an die reale Todeszone entlang des Eisernen Vorhangs erinnert, in "Metro 2033" und dem Nachfolger "Last Light" hat Nuklearkrieg die Überlebenden in die real existierenden Metrotunnel unter Moskau vertrieben, und im kommenden FPS-MMO "Escape from Tarkov" sind es Anarchie und Bürgerkrieg, die das Leben zum Stillstand bringen.
Es ist kein Zufall, dass sich in diesen Spielen, die alle von Entwicklern aus ex-sowjetischen osteuropäischen Regionen kommen, eine ähnliche Atmosphäre und eine alles durchdringende Melancholie feststellen lassen. Die Vorbildfunktion von "STALKER" ist deutlich: in der mit Stolz und - angesichts der Verwüstung: makaberem - Selbstbewusstsein ausgestellten Charakteristik von Landschaft und Orten, aber auch in der nüchternen, zuweilen brutalen Darstellung eines Lebens in permanenter Mangelwirtschaft ohne optimistische Aussicht auf Besserung. Der schwarze Humor, der etwa das ur-amerikanische "Fallout" durchdringt, hat hier keinen Platz.
Mit der Kamera in der Endzeit
Jüngster Eintrag in diese Nische ist "35MM". Im Unterschied zu den meisten anderen Vertretern sind wir hier wenig kämpferisch unterwegs. Eine globale Seuche hat den Planeten fast entvölkert, die Überlebenden sind sich nicht freundlich gesonnen. "35MM" ist ein Spaziergang in die Melancholie.
Wenn Spiele aus der Ich-Perspektive keine Action bieten, ist schnell die Rede vom "Walking Simulator". Der ursprünglich abwertende Begriff hat sich inzwischen etabliert und beschreibt Spiele, die in ihrem Fokus auf Atmosphäre und Erzählen innovative Experimente wagen. So auch "35MM". Die wenigen Rätsel, die wir in der etwa zweieinhalbstündigen Wanderung zu lösen haben, sind nur Nebensache. Die Hauptrolle spielen die melancholische Atmosphäre und eine tragische Geschichte, die sich erst nach und nach enthüllt.
"35MM" ist für Windows erschienen.
Es braucht - und hier schließt sich der Bogen zu Andrei Tarkowskis "Stalker" - allerdings ganz schön viel Geduld, um die Atmosphäre von "35MM" so richtig zur Entfaltung kommen zu lassen. Genau für diese Momente haben wir in "35MM" auch die titelgebende Kamera dabei.
Im Medium Computerspiel zeigt sich eine spezifisch postsowjetische Postapokalypse. Mit dem langsamen Spaziergang durch die melancholische Endzeit von "35MM", das meditative Arthouse-Atmosphäre statt Action bietet, lässt sie sich am vielleicht eindrücklichsten erleben.