Erstellt am: 6. 6. 2016 - 17:05 Uhr
Es gut sein lassen
Wer gute Geschichten liebt, den wird "Lettipark" frustrieren. Judith Hermann nimmt Momente, ja manchmal sind es Bruchteile von Sekunden oder schnelle optische Eindrücke, und beschäftigt sich mit ihnen. Für gewöhnlich schenkt man solchen Wahrnehmungen nicht weiter Beachtung, obwohl manchmal ein Gefühl hängen bleibt.
Suhrkamp Verlag
Mit diesem, ihrem kleinteiligen Blick auf die Welt hat sich Judith Hermann seit ihrem Debüt "Sommerhaus, später" einen Namen gemacht. Jetzt ist ihr fünftes Buch erschienen, in das sie 17 kurze Erzählungen gepackt hat. "Vordergrund macht Bild gesund", so lautet ein Schmäh unter Fotografen. Auf dem Cover zu "Lettipark" verdeckt Gestrüpp die Aussicht auf hohe Siedlungshäuser, der Himmel graut oder dämmert und warm leuchtet das Licht in den Fenstern der Wohnungen. Es gibt keinen Fokus. Als hätte jemand die Kamera aus Verlegenheit in die Weite gerichtet, der lieber die Begleitung fotografiert hätte. Judith Hermanns ProtagonistInnen könnte man so etwas zuschreiben. Die Autorin jedoch schaut sehr genau hin, beschreibt jede Figur, sodass man ahnt, mit wem man es hier zu tun hat. Vage Ahnungen zu erzeugen, die sich ab und an konkretisieren, das beherrscht Hermann hervorragend. Viel, sehr viel wäre möglich, ganze Welten könnten sich auftun für diese Figuren, die Judith Hermann hervorragend vorstellt. Doch dann passiert - nichts.
Trotzdem kann man in Hermanns Erzählungen kippen, über die besten davon will man von poetischer Magie schwärmen. Die Settings der Texte sind vertraute Plätze. Die Begegnungen spielen in der Gegenwart und in der westlichen Welt. Europa darf man als Schauplatz annehmen, einmal ist man in Odessa.
Tränen schießen einem in die Augen, wenn Hermann nicht locker lässt, die Vergänglichkeit in ihre Bücher zu packen. In manche der Texte in "Lettipark" begegnet einem plötzlich eine ungeheure Radikalität.
Etwa, wenn sie ungenannte Erzählstimmen im Text "Kohlen" über eine kurze Begegnung mit einem Fünfjährigen auf den Verfall und Tod dessen Mutter zu sprechen kommen lässt: "Sie war der lebendige Beweis dafür gewesen, dass man an einem gebrochenen Herzen sterben kann, sie hatte sich aus Liebe in sich selber eingeschlossen. Es war eigenartig zu denken, dass das Vincents ganzes Leben bestimmen würde".
Gaby Gerster
Und welcher Autorin nimmt man es ab, wenn sie einen Psychiatriepatienten derart charakterisiert: "Er übte damals, Gedichte auszuhalten. Er versuchte, ein Gedicht zu lesen, ohne dabei zusammenzubrechen, und ich muss sagen, es fiel ihm außerordentlich und erstaunlich schwer."
Es wird LeserInnen geben, die sich mit Judith Hermanns Texten erstaunlich schwer tun werden. "Ausstattungsprosa" nannte eine Kritikerin die "Lettipark"-Erzählungen, der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung montierte Sätze aus den Erzählungen zu einem weiteren Kurztext anstelle einer Kritik.
Zuerst sei meistens ein Satz da oder ein Bild, ein Blick auf eine Gegend oder auf einen unaufgeräumten Tisch oder in ein Zimmer hinein, sagt Judith Hermann in einem Interview über ihre Herangehensweise an das Schreiben. Oder am Anfang stehe eben ein Satz, den jemand zu jemand anderem sagte. Und der Satz bliebe hängen bei ihr oder sie hänge an diesem Satz fest und habe das Gefühl, der Satz sei irgendwie komisch. Also, irgendwas stimme nicht mit dem Satz, der Satz habe einen doppelten Boden.
Das bringt die Stimmung ihrer Texte gut zum Ausdruck. Die doppelten Böden hat sie gefüllt. Bevorzugt mit Auslassungen. Und bevor sich noch eine Geschichte entwickeln könnte, bricht Judith Hermann die Texte ab. Bis dahin hat man sich ein Bild gemacht.