Erstellt am: 4. 6. 2016 - 22:45 Uhr
Love and Hugs
Es war vorigen Sommer, da saß ich mit Philippe Auclair im French House in der Dean Street zusammen (französischer Sänger und Songwriter, Fußball- und Politik-Journalist in London, er ist über die Jahre schon öfters hier vorgekommen). Wir ließen uns über die leidige Angelegenheit des EU-Referendums aus, das auf uns zukommen würde.
Zu diesem Zeitpunkt war schon klar, dass die damals neu gewählte Regierung uns Ausländer bei ihrem verrückten Hasard-Spiel nicht mitmachen lassen wollte. Da musste also was getan werden.
Unser erster, vom bretonischen Cidre befeuerter, großspuriger Gedanke war, eine Liste britischer Unterstützer_innen zu sammeln, die uns zuliebe auf unser Stimmrecht pochen würden.
Schließlich hatten wir selbst jene britischen Europa-Abgeordneten in Brüssel mitgewählt, die wir jetzt mit der EU-Mitgliedschaft verlieren könnten. Einmal abgesehen von den Auswirkungen auf die eigene Existenz - vom Verlieren der Gesundheitsversorgung bis zur Möglichkeit eines Kriegs in Europa in den nächsten zwei Jahrzehnten (ich hoffe, ich übertreibe).
Wie der Historiker Timothy Garton Ash neulich in seiner Guardian-Kolumne schrieb:
"Neuseeländer, Australier und Kanadier könnten entscheiden, ob Britannien in der EU bleibt. Eine der wildesten Eigenarten des britischen Wahlsystems ist, dass eine Million oder mehr Bürger_innen des Commonwealth und Irlands, die in Großbritannien wohnen, im Referendum mitstimmen dürfen, während französische und italienische Leute, die hier seit 30 Jahren leben, das nicht können. Das ergibt keinen Sinn, aber andererseits wird England, wie Benjamin Disraeli einst bemerkte, nicht von der Logik sondern vom Parlament regiert."
Nun wurde leider schon bald nach dem ersten enthusiastischen Treffen mit Philippe im French House klar, dass jenes Parlament uns nicht zur Seite stehen würde - egal, was wir an Petitionen und Unterschriftenlisten zu organisieren vermochten.
Denn während die Labour-Opposition sich für das Stimmrecht der 16-Jährigen einsetze, war ausschließlich die Scottish National Party bereit, sich für uns Foreigners zu verwenden (und was die SNP als einzige vertritt, wird in Westminster ganz sicher nie beschlossen).
Die Labour-Abgeordnete Kerry McCarthy antwortete mir auf einen Tweet zur Sache gar, dass es hier wohl nicht um die Jobs von Europa-Abgeordneten gehen solle.
Meine Antwort, dass ich mich nicht um meine Repräsentant_innen, sondern um mein Recht auf Repräsentation sorge, war ihr dann schon keine Replik mehr wert.
Wir hatten also keine Chance.
Und dabei beließen es wir einstweilen. Sicher, wir hörten uns noch bei ein paar Jurist_innen um, aber mit dem Unterhaus-Beschluss des Referendums-Gesetzes war der Zug bereits abgefahren.
Der öffentliche Diskurs rund um die EU wurde indessen hysterischer und hysterischer, selbst die Argumente der sogenannten Bremainers erschöpften sich im Ausmalen wirtschaftlicher Konsequenzen, auf der linken Seite aufgelockert durch Verweise auf Errungenschaften des Arbeitsrechts, die in der EU verbrieft sind - alles immer nur aus der nationalen Perspektive. Und diese mutwillig verengte Sicht (ich hab hier schon reichlich drüber geschrieben) kam von Anfang an der Brexit-Fraktion zugute.
Irgendwann im neuen Jahr kam der umtriebige Philippe dann mit einer neuen Idee daher:
Ein Brief von außen, eine Bezeugung der ideellen Nähe des Kontinents zu Britannien, bewusst ohne irgendwelche konkret politischen oder wirtschaftlichen Argumente und vor allem ohne jeden Hauch der Bevormundung, die uns ins Eck der anmaßenden, kontinentalen Besserwisser stellen würde.
To Britain, with Love.
Die Sorte Statement, die jenen laut Umfragen signifikanten Teil der britischen Bevölkerung, der zwischen Kopf (EU-Verbleib zwecks der ökonomischen Sicherheit) und Herz (das große Ideal der britischen Selbstbestimmung) gespalten ist, daran erinnern könnte, dass sein Herz doch viel größer ist als die Insel, wo es wohnt.
Es half, dass an dieser Stelle Apostolos Doxiadis, der in Großbritannien wohnende griechische Autor von Logicomix, zu unserer Runde stieß.
Apostolos kann schreiben und ist sehr streng, was anderer Leute Schreibe angeht.
Wir einigten uns also auf einen Briefwortlaut, auf eine Einleitung und das Ziel, als Co-Signator_innen solche Europäer_innen dafür zu gewinnen, die in Großbritannien gekannt und geschätzt werden. Keine Politiker_innen oder Ökonom_innen, sondern Namen aus Kunst, Musik, Literatur, Sport, Wissenschaften.
Erst recht wieder elitär, könnte man sagen, aber das war von der Erkennbarkeit der Namen bedingt.
Zu meiner diesbezüglichen Verteidigung sei erwähnt, dass ich mich gleichzeitig noch in eine andere, weit inklusivere Initiative verwickeln ließ, mit der mich die in London lebende Profil-Autorin Tessa Szyszkowitz in Kontakt gebracht hatte:
"Hug a Brit", ein Love-Bombing der physischen Art: EU-Bürger_innen und Brit_innen veröffentlichen Fotos ihrer Umarmungen auf der Website pleasedontgouk.com.
Ich ging zu ein paar Treffen mit den durchgehend supersympathischen Initiator_innen, spielte gemeinsam mit den Auslandsösterreichern Aram Zarikian (Percussion) und Guido Spanocchi (Saxophon) beim Launch den Titelsong (eher so wie KC & The Sunshine Band aber im Tempo der House-Version), aber war mir bewusst, dass meine Rolle in dieser übrigens sehr erfolgreichen und immens medienwirksamen Aktion nur eine ziemlich begrenzte sein konnte (Ein männlicher Mittvierziger wie ich, der zur Umarmung einlädt, das muss nicht unbedingt überzeugen, so realistisch bin ich dann doch).
Robert Rotifer
Robert Rotifer
Der taktil unbegabte Boys Club, den Philippe, Apostolos und ich formiert hatten, widmete sich stattdessen der wohl typisch männlichen Obsession des Listenschreibens.
Und siehe da, trotz ein paar (erstaunlich vereinzelter) Abfuhren begann diese Liste - nicht zuletzt dank der Hilfe unseres Bekanntenkreises - zu wachsen.
Es wäre indiskret, die Routen der Kontakte offen zu legen, die zu den Unterschriften führten, aber die Leute, denen wir zu danken haben, wissen ohnehin selber, wer sie sind.
Und noch was im Sinne des Männer-Klischees: Die Unterschriftensammlerei zu dritt hat natürlich auch was von einem Wettbewerb an sich. Man will sich schließlich nicht genieren müssen, wenn die anderen mit so Namen wie Björn von Abba, Isabella Rosselini, Nana Mouskouri, Costa Gavras, Anton Corbijn, Arséne Wenger, Stellan Skarsgard oder Susanne Bier auffahren.
In der Decke meines Büros klafft jedenfalls noch ein Loch von dem Moment, als die Antwort von Elfriede Jelinek reinkam.
Ganz zu schweigen von der Erinnerung an jenes verlängerte Frühstück zuhause, bei dem die Antworten der hierzulande zurecht vergötterten Hans-Joachim Roedelius, Michael Rother (von Neu!) bzw. Harald "Synthesist" Großkopf im Minutenabstand in die Inbox plumpsten.
Aber all das konnte natürlich nur einen Sinn haben, wenn man auch die Öffentlichkeit erreicht. Und da störte es wiederum nicht, dass mit Philippe einer dabei ist, der sonst über Fußball schreibt, unter anderem an der Aufdeckung der jüngsten FIFA-Skandale beteiligt war, und daher sehr gut weiß, wie man der Presse was schmackhaft macht, ohne den Inhalt des Versprochenen zu früh zu verraten.
Und so fand unser Brief diese Woche, illustriert von "Gruffalo"-Zeichner (zu deutsch "Der Grüffelo") Axel Scheffler, seinen Weg aufs dieswöchige Cover des Times Literary Supplement und von dort dann in die Tagespresse.
Robert Rotifer
Ob's was geholfen hat, weiß ich nicht, aber wenn einem Briten schreiben, sie hätten beim Lesen unserer Liste einen Frosch im Hals gekriegt, dann betrachte ich das bescheidene Ziel der Kampagne einmal vorläufig als erreicht.
Heute erschien im Guardian unter dem Titel "Dear Britain, about the referendum..." eine Sammlung von Letters to Britain, verfasst von kontinentalen Literat_innen und Intellektuellen, unter anderem den auf unserer Liste vorkommenden Elena Ferrante und Javier Marias.
Gleich zu Anfang seines Beitrags schrieb darin Slavoj Žižek: "Es interessiert mich nicht, Liebesbriefe an die britische Öffentlichkeit mit der sentimentalen Botschaft 'Bitte bleibt in Europa!' zu verschicken."
Sehr gut.
Wenn ein Žižek unseren Brief zum Beweis seiner Originalität als Sprungbrett für sein übrigens ziemlich gutes Plädoyer gegen einen auch in der Linken immer stärker aufkommenden neuen Nationalismus verwendet, soll mir das erstens einmal recht sein.
Zweitens heißt es, dass unsere sentimentale Message angekommen zu sein scheint. Die viele Arbeit war nicht umsonst.
Denn Sentimentalität (die ich sowieso immer gegen ihren schlechten Ruf verteidige) ist nicht der schlechteste Ansatz, wenn man von der nationalromantischen Verheißung des Brexit fehlgeleitete Herzen erobern will.
Hier ist der Link zu unserem Brief und der Namensliste im Times Literary Supplement.
Robert Rotifer
Das Sammeln wird weitergehen. Wenn wir schon nicht wählen dürfen.