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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

4. 6. 2016 - 09:53

Wenn Hände sehen können

Der Schriftsteller Bi Feiyu entführt uns mit "Sehende Hände" in die Welt blinder MasseurInnen im gegenwärtigen China. Ein großer, poetischer und kunstvoll aufgebauter Roman.

Es herrscht Hochbetrieb im Massagezentrum in Nanjing. Lange Tage und lange Nächte massieren die Angestellten unter der Führung der zwei blinden Chefs Sha Fuming und Zhang Zongqi die gestressten Körper der chinesischen Ober- und Mittelschicht.

Buchcover "Sehende Hände" von Bi Feiyu

Blessing Verlag

"Sehende Hände" von Bi Feiyu ist in deutscher Übersetzung von Marc Hermann im Blessing Verlag erschienen.

Unermüdlich werden schmerzhafte Akupunkturpunkte gedrückt, werden Firmenleiter in den Erholungsschlaf massiert und zwischen den fließbandartigen Therapiesitzungen ziehen sich die KörperarbeiterInnen in den kleinen Ruheraum zurück.

Unter den MasseurInnen versucht auch der blinde Wang Daifu sich seinen Traum von Wohlstand und Familienleben zu erfüllen. Gemeinsam mit seiner zukünftigen Braut Xiao Kong arbeiten sie sich schweißgebadet an den verkrampften Körpern ab. Danach müssen sie in getrennten Wohnheimen auf jegliche Intimität verzichten. Ihre Liebe wird so einer harten Prüfung unterzogen.

Aber auch Chef Sha Fuming hat Probleme. Er verliebt sich in die schöne Masseurin Du Hong, kann allerdings aufgrund seiner Führungsposition nicht um sie werben. Und als dann auch noch ein Streit der beiden Chefs das gesamte Personal des Massage-Zentrums in zwei Lager zu spalten droht, steuern die persönlichen Verwicklungen und heimlichen Liebschaften auf ein dramatisches Finale zu.

In die dunkle Welt

Fünfundzwanzig Jahre hat der chinesische Schriftsteller Bi Feiyu an seinem Roman "Sehende Hände" gearbeitet. Schon 2008 in seiner Heimat veröffentlicht, hat er ihm die höchste Auszeichnung der chinesischen literarischen Welt, den Mao Dun Preis, eingebracht. Das mag an der unglaublich atmosphärischen Dichte und der kunstvollen Struktur liegen. Bi Feiyu verwebt in seinen Kapiteln, die jeweils bestimmten Charakteren gewidmet sind, das Schicksal seiner Masseurinnen und Masseure und ihre Vergangenheit zu komplexen, zwischenmenschlichen Beziehungen. Gesellschaftliche Normen und der Drang, das Gesicht zu wahren, führen bei den gefühlsbetonten Figuren zu inneren Spannungen und hohem Leidensdruck.

Der chinesische Autor Bi Feiyu

© privat

Das alles passiert vor dem Hintergrund einer gut geölten Wellness-Maschinerie, einem Tuina-Massage-Zentrum, das das Wohl des Menschen - oder besser des Kunden - in den Vordergrund stellt. Es ist nicht nur diese vordergründige Diskrepanz, die den Roman spannend macht. Bi Feiyu hat sehr großen Wert darauf gelegt, uns in detaillierter Beschreibung die Welt, die Werte und die Stimmungen der Blinden nachvollziehbar zu machen. An manchen Punkten wirken diese Hinweise auf die Andersartigkeit etwas übertrieben, jedoch will der Autor damit auch die Schwierigkeiten bei der Integration aufzeigen, mit denen viele Behinderte in China immer noch zu kämpfen haben. Das gelingt dem preisgekrönten Schriftsteller durch sehr poetische und für uns Europäer oftmals ungewöhnliche Analogien und Sprachbilder.

Obwohl "Sehende Hände" kurz nach der Jahrtausendwende angesiedelt ist, schwingt durch Bi Feiyus Sprache und Bilder das alte, mystische China immer mit. Selbst wenn manche detailverliebte Ausführungen sehr ausgebreitet werden, besitzt der rund 400-seitige Roman einen unglaublichen Sog, sowie eine ganz eigene Stimmung, der man sich nicht mehr entziehen will. Schlussendlich befinden wir uns selbst auf der Massage-Liege und durchleben mit jeder Figur die schmerzvollen und erlösenden Druckwellen, die das Leben auf uns alle immer wieder loslässt. Und wenn wir am Ende wieder aufstehen und uns dem Alltag zuwenden, hat sich nicht nur der eine oder andere Muskel gelöst, sondern vielleicht haben wir auch einen neuen Blickwinkel auf die Welt dazugewonnen.