Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Der Friedhof der namenlosen Flüchtlinge"

Michael Bonvalot

Politik. Zwischenrufe, Reportagen und Hintergründe.

31. 5. 2016 - 11:43

Der Friedhof der namenlosen Flüchtlinge

Auf der griechischen Insel Lesbos werden tote Flüchtlinge auf einem Acker verscharrt.

Dieser Friedhof hat keine Adresse. Es ist einfach ein Acker, irgendwo in der Nähe des Dorfes Kato Tritos auf der griechischen Insel Lesbos. Rundum verlaufen Zäune, nebenan suchen Esel nach Futter. Zum ersten Mal auf Lesbos schwirren überall Fliegen um mich herum. Der Ort ist bedrückend und still, die Sonne brennt auf die Grabhügel.

Friedhof Lesbos

Michael Bonvalot

Es war nicht einfach, diesen Friedhof zu finden, fast wollte ich bereits aufgeben. Schließlich aber führten mich zwei Dorfbewohner über die abgelegenen Pfade, bis wir vor der improvisierten Ruhestätte ankamen. Von außen gibt es keinen Hinweis darauf, was sich hinter diesen Zäunen finden wird. Nur ein Strauß mit Plastikblumen hängt an den verschlossenen Toren. Ich zwänge mich durch ein Loch im Zaun, gehe noch einige Schritte weiter und schließlich sehe ich sie: Rund 70 Grabsteine, hastig aufgeschüttete Gräber, einige nicht mehr als kleine Erdhügel.

Manche Gräber haben nicht einmal eine Tafel, doch auch die meisten beschrifteten Gräber verraten nicht viel. Denn auf vielen der Tafeln sind keine Namen zu finden, die Worte gleichen sich: "Unbekannter Mann, 20 Jahre", "Unbekannte Frau, 25 Jahre ", "Unbekanntes Mädchen, 3 Jahre". Schnell wird klar: Hier liegen Männer, hier liegen Frauen und hier liegen vor allem sehr viele Kinder begraben.

Ahmad Abubakir wurde ein Jahr alt

Manche der Gräber sind noch sehr klein, es gibt sogar zwei Doppelgräber. In dem einen Grab liegen zwei kleine Mädchen, sie wurden gerade einmal drei Monate alt. Im anderen sind zwei Buben begraben, der eine wurde ein Jahr alt, der andere drei. Auf manchen anderen Gräbern sind Namen zu finden, in einem Grab etwa liegt laut dem Grabstein der kleine Ahmad Abubakir. Er wurde ein Jahr alt.

grabstein

Michael Bonvalot

Rund um die Gräber liegen Hacken und Schaufeln. In einer Ecke steht eine Wanne aus Metall, damit werden die Toten wohl zur letzten Ruhe getragen. Es muss eine schaurige Arbeit sein, denn oft werden die Toten erst nach Tagen von der Strömung an Land getrieben.

Die Gräber sind schmucklos. Nur auf einem einzigen Grab finden sich drei rote Rosen. Hier liegt Masooma Hassani begraben, sie wurde zwölf Jahre alt. In manchen Fällen mussten Eltern, Freunde und Verwandte ihre Toten vielleicht auf Lesbos zurücklassen, als ihre beschwerliche Reise weiterging. Doch die vielen namenlosen Gräber deuten darauf hin, dass möglicherweise niemand die gefährliche Reise über das Meer überlebte, der von ihrem Tod berichten hätte können.

All diese Menschen wurden Opfer der aktuellen Flüchtlingspolitik. Sichere Überfahrten sind nicht möglich, also treten die Menschen die gefährliche Reise über das Meer an. Ein Großteil der Menschen stammt aus den Kriegsgebieten Syrien, Afghanistan und Irak. Die Zahlen des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR sprechen eine klare Sprache: 89 Prozent aller Flüchtlinge, die 2016 in Griechenland ankamen, stammen aus diesen drei Ländern.

Kinder auf der Flucht

Auch die immer wiederkehrende Behauptung, dass die Flüchtlinge großteils alleinstehende junge Männer wären, wird durch die Zahlen widerlegt. 21 % der ankommenden sind Frauen, 38 % sind Kinder. Für diese Kinder ist die Überfahrt besonders gefährlich: Sie sind weniger kräftig, sie können schlechter schwimmen, sie sind anfälliger für Unterkühlung. Es ist also kein Zufall, dass auch auf dem Friedhof von Kato Tritos besonders viele Kinder begraben sind.

Im Jahr 2016 werden im Mittelmeer bereits mindestens 2325 Menschen vermisst. Diese Zahl ist allerdings zwangsläufig unvollständig. Wenn ein Boot kentert, überlebt oft niemand mehr, der davon berichten könnte. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass zwischen Libyen und Italien wieder hunderte Menschen ertrunken sind. Auch aus der Türkei flüchten wieder mehr Menschen Richtung EU. Kein Wunder, die Türkei gilt nicht als sicher. Im April etwa wurde bekannt, dass die Türkei seit Anfang des Jahres bereits tausende Flüchtlinge nach Syrien zurück abgeschoben haben soll. Die Menschen auf der Flucht werden also weiter die gefährliche Reise über das Meer antreten - und bald werden wohl neue Gräber auf dem Friedhof von Kato Tritos ausgehoben werden müssen.