Erstellt am: 30. 5. 2016 - 14:53 Uhr
Dramatische Tage
Das Mittelmeer ist in den letzten Jahren für viele Flüchtlinge zur tödlichen Falle geworden. 2015 sind mehr als 3.700 Menschen auf der Überfahrt nach Europa gestorben. Dieses Jahr sind es schon mehr als 1.400.
Alleine letzte Woche hat es im Mittelmeer drei tragische Bootsunglücke gegeben, bei denen nach Angaben des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) mindestens 700 Menschen gestorben sind. Wir haben heute mit Ruth Schöffl vom UNHCR gesprochen.
APA/AFP/GABRIEL BOUYS
Die letzte Woche war die schlimmste in diesem Jahr, was Bootsunfälle mit Toten betrifft. Wie haben Sie beim UNHCR die letzten Tage erlebt?
Ruth Schöffl: Die letzten Tage waren vor allem für die KollegInnen in Italien sehr dramatische Tage. Normalerweise sprechen wir mit den Überlebenden, die an Land gebracht werden. Und anhand dieser Gespräche können wir dann ungefähr rekonstruieren, wie viele Menschen im Meer verschollen oder gestorben sind.
Letzt Woche gab es drei größere Unfälle. Menschlich am schlimmsten war, glaube ich, jener, wo ein Boot ohne Motor losgefahren ist und von einem anderen Boot geschleppt wurde mit sehr sehr vielen Menschen an Bord. Das ist natürlich nicht gut gegangen: Das Boot hat begonnen Wasser aufzunehmen, die Überlebenden haben berichtet, dass sie versucht haben, von Bord und auf das andere Boot zu kommen. Das geschleppte Boot ist vollkommen gesunken und nur ganz wenige konnten das andere Boot erreichen. Wir befürchten, dass alleine dort über 550 Menschen gestorben sind.
Geht es jetzt wieder los, soll heißen: Werden sich jetzt wieder jeden Tag Boote nach Europa aufmachen?
Jetzt, wo das Wetter besser ist, sind in den letzten Tagen knapp 15.000 Personen in Italien angekommen. Dabei handelt es sich um die zentralmediterrane Route, wo die Boote von Libyen, manche auch von Ägypten abfahren. Die Menschen versuchen nach wie vor Europa über Italien zu erreichen, solange es keine anderen Wege gibt. Gleichzeitig sind die Ankunftszahlen in Italien unter dem Niveau vom vergangenen Jahr. Das ist noch kein statistischer Ausreißer gegenüber dem Vorjahr, was die Ankunftszahlen betrifft.
Durch den EU-Türkei-Deal und die Schließung der Balkanroute hat man sich ja erhofft, dass sich weniger Menschen mit dem Boot über das Mittelmeer aufmachen. In Griechenland hat sich die Situation tatsächlich entspannt – gibt es eine Verlagerung der Routen?
Die Überfahrten haben sich nicht verlagert, sondern wir sehen momentan ein anderes Profil an Menschen, die in Italien ankommen. So wie in den vergangenen Jahren sind das viele Menschen aus afrikanischen Ländern, und zwar Nigeria, Somalia und Eritrea – um nur einige aufzuzählen. Die Ankünfte in Griechenland dagegen waren zu fast hundert Prozent Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Da gibt es noch keinen Umschwung auf die andere Route. Soll aber nicht heißen, dass sich nicht auch die Fluchtroute der Menschen aus den Syrischen Gebieten ändern wird - das können wir jetzt noch nicht sehen.
Was gibt es für Maßnahmen, um die vielen Toten im Mittelmeer zu verhindern? Was fordern Sie als UNHCR?
Aus Sicht von UNHCR wäre es wichtig, für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten, alternative Wege zu öffnen, sie direkt aus den Konfliktgebieten oder den Nachbarländern aufzunehmen, sicher und planbar. Andererseits auch jene Menschen aufzunehmen, die Familienangehörige in Europa haben, damit sie nicht diesen gefährlichen Weg auf sich nehmen müssen. Drittens müsste man die Länder unterstützen, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen - es ist ja nicht so, dass alle nach Europa kommen. Die meisten Flüchtlinge sind ja noch in den Nachbarregionen - denen sollte man mehr Geld zur Verfügung stellen, auch den Hilfsorganisationen. Gleichzeitig muss man auch jene Menschen, die nicht klassische Flüchtlinge sind, sondern die versuchen, eine bessere Zukunft in Europa zu bekommen, über die Risiken aufklären und sie ganz klar informieren, wer in Europa Chancen auf Asyl hat.
Das Europaparlament berät heute Nachmittag über eine gemeinsame EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten. Tunesien ist da im Gespräch, oder Marokko. Wie bewerten Sie das aus der Sicht des UNHCR?
Aus Sicht des UNHCR ist es wichtig - egal ob es Listen gibt oder nicht - dass man sich jeden Einzelfall genau ansieht. Es kann sein, dass jemand aus einem so genannten sicheren Land kommt, aber trotzdem Asylgründe hat. Das ist für uns vorrangig.
Wie ist die Perspektive bis Oktober – wo doch jetzt schon mehr als die Hälfte der Toten von Vorjahr erreicht wurde?
Es ist schwierig, eine so tragische Prognose aufzustellen. Wir sehen, dass die Methoden der Schlepper immer skrupelloser werden und die Verzweiflung der Menschen gleich hoch bleibt. Das ist natürlich ein sehr gefährliches Gemisch.