Erstellt am: 28. 5. 2016 - 18:56 Uhr
Beware the London Families
Sie kommen und nehmen unsere Wohnungen, sie stehlen unsere Jobs, sie machen unsere Straßen unsicher. So tönt es durch England im Vorfeld des Brexit-Referendums.
Ich kann es den Leuten in meiner Gegend hier unten in Kent ja nicht ganz übel nehmen, wenn sie sich den Kontinent da drüben jenseits des großen Wassers als Quell alles Bösen vorstellen, bei all dem, was sie von Politik und Medien so gefüttert kriegen.
Sogar in Canterbury, einer kleinen Stadt, die einerseits vom Euro-Tourismus, andererseits von ihren drei Unis lebt, insbesondere der University of Kent, die sich stolz „The UK's European University“ nennt.
Was den hiesigen Unterhausabgeordneten, einen seit Jahrzehnten auf seinen Sitz abonnierten alten Tory namens Julian Brazier, aber trotzdem nicht dran hindert, mit suizidärem Eifer für den EU-Austritt ins Feld zu ziehen.
Weil die örtlichen Obstpflücker_innen unter ihrer ausländischen Konkurrenz leiden (Hauptsache, die Obstfarmer, die jene unverschämt ausnützen, sind nicht das Problem), und weil die EU Braziers Meinung nach unnötig bös zu Putin ist und damit die Sicherheit britischer Soldaten gefährdet.
Auch eine originelle Perspektive angesichts der Kriege, in die Großbritannien uns in den letzten anderthalb Jahrzehnten mit rein geritten hat.
Neulich erst war ich nach dem wöchentlichen Fußballspiel in ein Gespräch mit dem Vater eines Klassenkameraden meines Sohnes, von Berufsstand Fensterputzer, verwickelt, den ich mit ein paar Worten der nüchternen Wahrheit aus kontinentalem Munde zum Verbleib in der EU überreden konnte.
Ich muss ehrlich zugeben, dass ich ihm seine aus dem reichen Schatz der Gruselgeschichten-Folklore gespeisten Behauptungen über all die diebischen Zigeuner, die aus Bulgarien und Rumänien zu uns rüber kämen, der höheren Mission zuliebe durchgehen ließ.
Darauf müssen wir noch zu sprechen kommen.
Einstweilen reichte mir aber schon seine Einsicht, dass die Isolation von der Nachbarschaft nicht direkt in ein neues Arkadien führen wird, und dass ein Brexit all den neuen und alten Nationalist_innen in Europa aber sowas von in die Hände spielen würde.
Gegen Ende unseres Gesprächs war der zuvor tendenziell separatistisch gesinnte Fensterputzer plötzlich Feuer und Flamme pro Remain. Nicht nur wegen meiner Überredungskunst, sondern weil jedes einigermaßen rationale Argument dieser Tage zwangsläufig heraussticht.
Ein knappes Monat vor dem Referendumstermin gebiert die Debatte rund um die Abstimmung in den Medien nämlich von Tag zu Tag neues Unfassliches.
Mein Lieblings-Titelblatt der letzten Woche war das Sex-Pistols-Zitat der Sun vom Dienstag als Kommentar zu der Aufregung konservativer Brexiteers über die apokalyptischen Warnungen des Bremainers und Schatzkanzlers George Osborne.
Robert Rotifer
Immerhin ein Beleg für die Tiefenwirkung des Punk in der britischen Alltagskultur und allemal subtiler als der Versuch des Express, die Brexit-skeptischeren Frauen Britanniens mit dem Angstmachen vor einer europäischen Bedrohung des Familienlebens an Bord zu holen.
Robert Rotifer
Während der Telegraph am selben Morgen feststellte, dass die älteren Wähler_innen, die bisher überwiegend zum Brexit neigten, sich zunehmend auf die Remain-Seite zu schlagen scheinen. In anderen Worten: Der altkonservative Telegraph dreht sich allmählich ein bisschen von 'Out' Richtung 'In'.
Robert Rotifer
Hatte mich ja schon überrascht, dass die Zeitung im April die Single „I Love EU“ von Gruff Rhys (Super Furry Animals) so positiv besprach (übrigens einer von rund 30 britischen Songs über Europa, den ich in meiner Songs-For-Europe-Spezialausgabe von FM4 Heartbeat am Montag ab 22 Uhr spielen werde).
Wirklich interessant wurde es aber am Donnerstag, als die Regionalzeitung herein geflattert kam: Sie kommen und nehmen unsere Wohnungen, sie nehmen unsere Jobs, sie machen unsere Straßen unsicher, erfuhr ich da. Bloß, dass es diesmal nicht um finstere Kontinentale ging, sondern um „London families“.
Robert Rotifer
Laut der Kentish Gazette steht die Stadt Canterbury unter Schock ob der Nachricht, dass die ehemalige Kaserne einer abgezogenen schottischen Garnison im Osten der Stadt von Familien aus der wilden Hauptstadt besiedelt werden soll.
„London families“ ist natürlich ein Euphemismus.
Ich wusste es damals nicht, aber als wir 2004 aus London hier runterzogen, weil wir uns in London nicht mehr den nötigen Wohnraum leisten konnten, gehörten wir zur Vorhut.
Die „DFLs“, wie man sie hier damals nannte (DFL steht für „Down From London“), hatten zu jenem Zeitpunkt zwar schon den besseren Teil der nahen Seestadt Whitstable in Beschlag genommen, aber da war das noch eine schicke Idee örtlich ungebundener Freelancer_innen mit frischer Familie.
Mittlerweile haben wir es mit notgedrungener Stadtflucht zu tun, und die Angst und Schrecken erregenden „London families“ sind ausgesiedelte Sozialbaubewohner_innen, für die es im Immobilienmakler-Paradies London einfach keinen Platz mehr gibt.
Als Erklärung dafür bot sich das Titelblatt des Guardian vom selben Tag an: „Khan attacks foreign buyers for leaving 'gold brick' flats empty“ - der neue Londoner Bürgermeister beschwert sich über ausländische Investoren, die die überall im östlichen Zentrum der Stadt aus dem Boden sprießenden Luxuswohntürme aufkaufen und als Geldanlage leerstehen lassen.
Robert Rotifer
Nun ist das ja die interessante Kehrseite der von den Panama Papers aufs Tapet gebrachten Geldwäsche-Story: Das internationale Steuervermeider-Geld, das in Strömen nach London fließt, vertreibt in seinem Sog des daraus resultierenden Mietenwuchers die örtliche Bevölkerung in Provinzen wie die meine.
Und die Schnellzüge und Autobahnen zwischen hier und der Metropole präsentieren sich allmorgendlich wieder um ein paar Pendlerseelen dichter gestopft.
Umgerechnet 6.750 Euro kostet die Jahreskarte für das pro Fahrt mindestens einstündige Pendeln zwischen Canterbury und London. Wenn sogar das noch günstiger kommt, als in London wohnen zu bleiben, hat die Hauptstadt ein existentielles Problem, das auch der Brexit nicht wegschaffen wird. Schließlich ist das Verhökern des eigenen Bodens neben dem Finanzmarkt Londons einzige boomende Branche.
Und aus diesem Grunde wollen sie zum Beispiel in den nächsten paar Jahren die grünen Felder südlich des Schreibtischs, wo ich dies hier gerade tippe, mit Tausenden Pendlerbehausungen für von den Wohnkosten verjagte Ex-Londoner_innen verbauen.
Aus Sicht der Provinz bleibt nach ultimativer Logik der Brexiteers dann als Lösung des auf uns zukommenden Problems eigentlich nur mehr die Ausrufung eines Freistaats Kent mit geschlossenen Grenzen.
"Kexit" sozusagen.
Kommt alles noch. Bollocks wachsen bekanntlich immer neue nach.
Twitter Another Europe is possible
PS: Im University College London findet heute der Launch der progressiven Initiative "Another Europe is possible" für Großbritanniens Verbleib in der EU statt, unter anderem mit Reden von Yanis Varoufakis, der grünen Abgeordneten Caroline Lucas, des Labour-Schatten-Schatzkanzlers John McDonnell und des Autors und Aktivisten Owen Jones. Immerhin, spät aber doch.