Erstellt am: 28. 5. 2016 - 14:07 Uhr
"A typical girl"
Viv Albertines Weisheiten
Robert Rotifer hat Viv Albertine 2015 besucht und mit ihr ein FM4 Gästezimmer aufgenommen.
Musikerinnenbiographien sind in letzter Zeit einige erschienen. 2010 machte Patty Smith mit dem vielgelobten „Just Kids“ den Anfang, es kam das eher enttäuschende „Girl in a band“ von Kim Gordon dazu, dann „Reckless“ von Chrissie Hynde. Cindy Lauper erzählte 2013 in „A Memoir“ aus ihrem Leben und nun ist Viv Albertines 2014 bereits auf Englisch erschienene Biographie „Clothes, Clothes, Clothes. Music, Music, Music. Boys, Boys, Boys“ auf Deutsch unter dem Titel „A typical Girl“ erschienen.
![© Suhrkamp Buchcover: Viv Albertine sitzt mit gespreizten Beinen auf einer Bank](../../v2static/storyimages/site/fm4/20160521/Viv_Albertine_Cover_body_small.jpg)
Suhrkamp
Zur Zeit ist die ehemalige Slits-Gitarristin in Deutschland auf Lesetour und am Freitag konnte man sie im Untergeschoß eines Berliner „Kulturkaufhauses“ live erleben.
Jubel brach los, als sie mit ihrer Übersetzerin Conny Lösch auf die Bühne kam, und die beiden legten sofort los: lasen auf Deutsch und Englisch aus dem Buch, unterhielten sich unter Szenenapplaus über misslungene Blowjobs und künstliche Befruchtungen, dazu wurden in einer Diashow Bandfotos und Plattencover gezeigt.
„A typical girl“ - das sind Kurzaufnahmen des Lebens der Viv Albertine, wie eine Vinyl-Lp säuberlich in A- und B-Seite gegliedert. A: Kindheit und Jugend, Punk, die Slits, Freundschaften, Moden; die B-Seite ist auch ein Frauenschicksal: Verlust der Band, unzählige Fehlgeburten, Mutterschaft, Krebserkrankung und Erholung, die bleiernen Jahre in Hausfrauen-Tristesse, Trennung, Soloplatte - Weiterleben.
Spricht man heute von Punk und den Achtzigern, dann natürlich von den Clash und den Sex Pistols, es wird unterschlagen, dass es damals mehr Frauen in erfolgreichen und bekannten Bands gab als heute, das nennt man die Marginalisierung von Musikerinnen.
Tatsächlich bot Punk mit seiner DiY-Ästhetik Frauen erstmals die Möglichkeit, auch ohne große musikalische Vorbildung einfach loszulegen und sich einen Platz zu erobern.
Die Slits trauten sich mehr als alle anderen in der Zeit, letztendlich verkörperten sie den Punk-Gedanken noch mehr als The Clash oder die Sex Pistols.
![© Lena Drinks Viv Albertine und ihre Übersetzerin Conny Lösch bei einer Lesung](../../v2static/storyimages/site/fm4/20160521/VivAlbertineLesung.jpg)
Lena Drinks
Viv Albertine erzählt das alles offen und schonungslos, durchaus mit Freude an den saftigen Untenrum-Themen Blut, Scheiße und Pisse.
Am Freitagabend in Berlin sprach Albertine von den Siebzigern, die auch in London gar nicht so frei und easy waren, wie man heute vielleicht meinen könnte. Was den Verhaltenskodex für Mädchen angeht, befand man sich da noch tief in den Fünfzigern und Sechzigern. Mädchen sollten hübsch, anschmiegsam und freundlich sein, immer lächeln, und es ging hauptsächlich darum, einen Mann abzukriegen.
Die Slits hingegen waren wie ein gewaltiges Naturereignis - wilde, verlotterte junge Frauen, die nicht gefallen wollten. Weltberühmt das Cover von „Cut“, das die Musikerinnen halbnackt und schlammbedeckt zeigt.
![© Antilles Plattencover: The Slits - "Cut" mit dreu schlammbedeckten Frauen](../../v2static/storyimages/site/fm4/20160521/The_Slits_Cut_body.jpg)
Antilles
Viv erzählte vom großen Zusammenhalt in der Band, trotz der Spannungen mit der schwierigen Ari Up, und von der großen Trauer nach der Auflösung der Slits, die mit der Kommerzialisierung des Pop und dem Verlust von Pop als kultureller Heimat einherging.
Musikermemoiren sind, ab einem gewissen Alter verfasst, auch immer die Memoiren von Überlebenden. Und auch Viv Albertine ist eine Überlebende.
Ihre „Memoirs“ - so unerschrocken und freimütig sie auch erzählen - gehen dabei ganz liebevoll mit den alten lebenden und gestorbenen Weggefährten und anderen alten Punk-Haudegen um. Albertines Sprache, im literarischen Feuilleton gerne als ruppig und kunstfern beschrieben, ist glasklar, schnörkellos und ohne jedes Pathos. Und so ist ihr mit „Typical Girls“ ein, trotz aller traurigen Seiten, amüsantes Buch gelungen, dass man am Liebsten in einem Rutsch durch lesen möchte.
Am Freitagabend nach der Lesung standen viele Frauen sämtlicher Altersklassen Schlange, um sich ihre Bücher von Viv Albertine signieren zu lassen. Die Slits waren in den Siebzigern und frühen Achtzigern schließlich ein Rolemodel für alle Frauen, die nicht die Gitarristen anhimmeln, sondern selber auf der Bühne stehen wollen.
Aber auch Fünfzigjährige brauchen noch Role Models. Viv Albertine ist eines, denn sie beschreibt, wie das gehen kann: Überleben, integer bleiben, weitermachen und den Humor nicht verlieren.