Erstellt am: 25. 5. 2016 - 15:33 Uhr

Die Zeit ist in uns

Seit einer halben Stunde höre ich mir Tihomirs Wutrede an. Das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl treibt ihn zur Weißglut. Dabei wollte ich ihn doch nur um Hilfe bei meiner Übersiedelung bitten.

"Auf der Straße hört man heutzutage kein deutsches Wort mehr! Österreich ist jetzt voller Abschaum: Tschetschenen, Albaner, Araber!"

Gemeinfrei

Vasil Levski

Ich höre mir seit einer halben Stunde Tihomirs Rede an. Ich sitze in der kleinen Küche seiner Gemeindebauwohnung. An der Wand hängt die bulgarische Flagge, daneben ein Porträt des bulgarischen Nationalhelden Vassil Levski. Tihomir ist ein starker Bursche. Um seine Bizepsgröße zu unterstreichen, trägt er ein ganz enges T-Shirt.

Er ist ein LKW-Fahrer und ich brauche einen LKW für meine Übersiedlung am Wochenende. Ich bin da, um das mit ihm zu besprechen. Stattdessen höre ich mir Tihomirs politische Weltsicht an. Aus der Anlage ertönen bulgarische Turbofolkrythmen. Ich bin nicht der größte Turbofolkfan, aber ich sitze ruhig und höre Tihomir zu - ich muss ja bald übersiedeln.

"Seit 16 Jahren wohne ich in diesem Land, Bruder! Du hast keine Ahnung, was mich das alles gekostet hat, mir diese Wohnung zu checken, meinen LKW. Ich arbeite wie ein Tier, ich zahle Steuern, ich schicke Geld an meine Rentnereltern in Bulgarien. Sie waren beruhigt, da ich mein Leben in einem sauberen und ruhigen Land geregelt habe. In einem Land ohne Kriminalität. Und jetzt haben uns die Taliban überflutet! Ich kann meine Frau nicht alleine auf der Straße lassen!"

Tihomir macht kurz die Anlage leiser, da im Fernsehen das Ergebnis der Bundespräsidentschaftswahlen angekündigt wird. Tihomir ist ein österreichischer Staatsbürger, der brav wählen gegangen ist. Für den FPÖ-Kandidaten. Er nimmt seine Niederlage persönlich. Das Ergebnis treibt ihn zur Weißglut.

ORF

"Die Liberasten haben diesen grünen Schlappschwanz gewählt! Alle Grünen und Roten sollte man am besten aufhängen! Eines Tages werden sie weinen, sich nach einer starken Hand sehnen, aber es wird zu spät sein!"

Ich teile Tihomirs politische Sichten nicht, aber ich bleibe still. Er muss mir ja mit dem Übersiedeln helfen. Ich ertappe mich dabei, dass ich nach jedem Satz von ihm mit dem Kopf nicke. Schweiß bricht auf meiner Stirn aus. Es ist so leicht ein Mitwirkender zu sein, man muss nur ein eigenes Interesse haben, um still vor der offensichtlichen Dummheit zu bleiben.

Ich schaffe es endlich, Tihomir über mein Übersiedeln zum Sprechen zu bringen. Es stellt sich heraus, dass er an dem Tag gar keine Zeit hat. Ich verlasse seine Wohnung. Aus der Wand schaut mich der bulgarische Volksheld Vassil Levski traurig an. Ein Zitat von ihm fällt mir beim Verlassen der Wohnung ein. "Die Zeit ist in uns und wir sind in der Zeit. Die Zeit wandelt uns um und wir wandeln die Zeit um."