Erstellt am: 24. 5. 2016 - 16:13 Uhr
Vom falschen Leben im Falschen
Marlen Schachinger,
Jahrgang 1970, ist freie Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet. Außerdem lehrt sie Literarisches Schreiben und hat das Institut für Narrative Kunst (INK) in Niederösterreich gegründet.
Eine jüdische Physikerin in der NS-Zeit, ein kubanischer Journalist, der sich zu Tode schweigt, und eine arbeitswütige Human-Ressources-Managerin. Die Figuren, die sich Marlen Schachinger für ihre elf Erzählungen ausgedacht hat, haben aufs Erste nicht viel gemeinsam. Außer, dass sie alle in Unzeiten leben, das falsche Leben unter falschen Umständen führen:
Rainer Stock
"Morgens, du wirst gerade den Zipp deines Etuikleides im Rücken geschlossen haben, den Verlauf der Naht deiner Strümpfe im Spiegel prüfen, als aus dem Radio die Nachricht dringt, dass rund neunhundert Menschen im Mittelmeer ertrunken seien, weil die EU das Rettungsprogramm Mare Nostrum nicht fördern wollte, Fischereirechte waren bedeutsamer - falls du das in diesem hastigen Nebenher richtig verstanden hast. (...) Traurig sei das, wirst du denken, traurig, und du wirst in deine neuen roten Pumps schlüpfen."
Von Zwangsarbeit zu Zeitarbeit
Die Flüchtlingskrise, TTIP, Zensur in totalitären Regimen oder einfach die gemeine Kleingeistigkeit in all ihren homophoben und neofaschistischen Ausformungen sind die Themen, an denen sich Schachinger abarbeitet. Von der ersten bis zur letzten Seite spannt sie den Bogen von Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg bis zu Zeitarbeit in den Logistikzentren von Amazon und Co.
Ausgangspunkt für ihre Erzählungen sind oft reale Ereignisse. Aus akribischer Recherche in Archiven, aus Zeitungsartikeln und Dorftratsch macht Schachinger Literatur. Die ausführlichen Quellenangaben im Anhang des Buches zeugen von dieser Methode.
Otto Müller Verlag
Bestes Beispiel ist gleich die erste Geschichte im Erzählband. Sie ist rund um das Massaker von Rechnitz angesiedelt, bei dem 200 jüdische Zwangsarbeiter kurz vor Kriegsende erschossen wurden. Die Autorin schildert darin, wie der Nationalsozialismus und später der Eiserne Vorhang das Leben einer jungen Mutter und der darauffolgenden Generationen beeinflusst. In einer anderen Erzählung wird der Protest gegen Fracking-Projekte in Rumänien in den Kontext einer sehnsuchtsvollen Fernbeziehung gestellt. Gegen Ende des Buches müssen sich zwei Linzer Kellnerinnen mit ewiggestrigen Kunden rumschlagen: "Letzte Woche hatten sie ungarische Hitler-Touristen zu bewirten gehabt; auch das seien zahlende Gäste, so Horst, mit relevantem Bierkonsum."
Lesungen mit Marlen Schachinger:
- 30. Mai 2016, 19 Uhr: Alte Schmiede Wien
- 16. Juni, 19 Uhr: Literaturhaus Henndorf
Das Private ist politisch
Von linearen Erzählstrukturen hält Schachinger nicht viel. Im Gegenteil, sie fabuliert gerne, schreibt lange Sätze, macht lieber Beistriche als Punkte. Nicht in jede Erzählung findet man daher auf Anhieb hinein. Ahnungen, die sich beim Lesen entwickeln, bestätigen sich manchmal, zum Teil werden sie auch von völlig neuen Erzählsträngen unterbrochen. In den meisten Fällen kommt Schachinger aber präzise auf den Punkt und illustriert schön, dass das Private nach wie vor höchst politisch ist.