Erstellt am: 25. 5. 2016 - 18:07 Uhr
Wunderbares Wunderland
Dorothy kommt in "The Wizard of Oz", einer schwer von "Alice in Wonderland" inspirierten Geschichte, zu dem Schluss, dass "No place like home" ist. Alice hingegen, die zu Beginn von "Alice through the looking glass" nach Jahren auf hoher See ins viktorianische England zurückkehrt, muss feststellen, dass in dem, was ihr Zuhause ist, eigentlich kein Platz für sie ist. Um es mit Wunderland-Jargon zu formulieren, da ist kein Platz für Alice’ muchness.
"Alice through the looking glass" startet am 26. Mai 2016 in den österreichischen Kinos.
Eine junge, selbstständige Frau, die die Hochzeit mit dem dödeligen, aber reichen Aristokraten Hamish ausgeschlagen hat und stattdessen als Kapitän auf den Weltmeeren unterwegs ist, die sprengt das Vorstellungsvermögen der noblen Briten. Hamish - immer noch beleidigt wegen der Zurückweisung, will Alice erpressen: Entweder sie beginnt für ihn zu arbeiten oder Alice und ihre Mutter verlieren ihr Haus.
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Kein Wunder also, dass Alice das Weite sucht und sei es auch nur im ersten Stock des Hauses, da hört sie die vertraute Stimme des Schmetterings Absolem (es reißt einen kurz, denn Absolem wird gesprochen von Alan Rickman, der Anfang des Jahres verstorben ist) und während Hamish und seine Anwälte quasi als Verkörperung eines sturen Patriarchats ihr auf den Fersen sind, entdeckt Alice, dass der Spiegel in der Bibliothek ihres verstorbenen Vaters eine Tür ins Wunderland ist. Und eine Begegnung mit dem ewig nörgeligen Humpty Dumpty und einem freien Fall in einen Kirschbaum später liegt Alice schon inmitten alter Bekannter. Weiße Königin, Tweedledum und Tweedledee, Märzhase, Grinsekatze.
Augenroll-Konsens
Dass einen Disney nach dem großen Erfolg von "Alice in Wonderland" im Jahr 2010 sicherlich nochmal in das irrwitzig-verschrobene logiklose Land schicken würde, war vorhersehbar. Damals hatte Tim Burton die Regie übernommen - eine irgendwie fast schon zu auf der Hand liegende Wahl, denkt man an Burtons frühe Filme, wo das düster-schaurige mit dem Liebevollen verschmolz - nur war auch 2010 Tim Burton schon einer, wo es schon fast neun Jahre lang (2001 verscherzte es sich Burton mit vielen mit dem "Planet der Affen"-Remake) zum popkulturellen Konsens gehörte, leicht mit den Augen zu rollen und auf eine Zeile der Fantastischen Vier (also die mit Smudo, nicht die mit The Thing) zurückzugreifen und "Die alten Sachen fand ich ja ganz gut, die neuen nicht") zu murmeln.
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Sad Hatter und Delorean
Diesmal ist Burton als Produzent dabei, Regie führt James Bobin (immerhin dank "Muppets" erfahren im Umgang mit zappeligen kleinen Wesen) und eigentlich fragt man sich bei derart spektakeligen und mindestens zur Hälfte aus CGI bestehenden Filmen eh immer, wieviel Platz da noch für Regiearbeit ist. Johnny Depp muss man sicherlich keine Regieanweisungen geben, der kehrt zurück als Mad Hatter und umarmt - wie schon im ersten Alice-Abenteuer und wie in dreiviertel aller Depp-Filme - die hohe Kunst des manieristischen Schauspiels, trägt Zahnlücke wie seine Ex-Frau Vanessa Paradis und lispelt sich schrullig durch seine wenigen Szenen.
Weitaus weniger energetisch als gewohnt, das hat aber mit dem Drehbuch und nicht Depps Engagement zu tun: Mad Hatter ist nämlich grad ein sad hatter, die Wunderlandler machen sich Sorgen um ihn und hoffen, dass Alice helfen kann, das gebrochene Herz des verrückten Hutmachers zu heilen. Alles, was sie dafür tun muss, ist, die verstorbene Familie des Hutmachers aus der Vergangenheit zu holen. Der Delorean des Wunderlandes heißt Chronosphaere, ein herrliches, rundes Messinggefährt, mit dem man durch die Zeit reist und den man zuvor aber der Zeit höchstselbst wegnehmen muss.
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Cohen und seine Steampunk-Minions
Mit der Besetzung der Zeit mit Sasha Baron Cohen gelingt "Alice through the looking glass" ein kleines Castingwunder, auch weil Cohen für seine Verhältnisse kleingestig agiert und neben Will Ferrell wohl der einzige ist, der sowas wie einen deutschen Akzent tatsächlich noch zu einem Witz machen kann. Zeit lebt in einem riesigen Palast, muss eine Uhr am Ticken halten und ist außerdem natürlich der Tod höchstpersönlich, genau diese verschrobene Düsterheit, die Kindern ja auch so gefällt, auch wenn viele Erwachsene das für unpassend halten, sind die Stärken des Films.
Ebenso ein herrliches Konstrukt verschrobener Putzigkeit sind die Helferleins der Zeit, kleine klappernde Blechmännlein, Steampunk-Minions, die sich in Windeseile zu Transformer-artigen Riesen zusammenbauen können. Und apropos Riesen, die wunderbare Helena Bonham-Carter als Herzkönigin mit einem Kopf, zu dem mir immer der Satz einfällt, der in Douglas Couplands Kopf geschossen ist, als er Morrissey zum ersten Mal gesehen hat: That's one massive head. Die wortwörtlich und sprichwörtlich großkopferte Königin rennt stets übel gelaunt wie ein Teenager mit zuviel Taschengeld durchs Wunderland und zerstört mit einer Beiläufigkeit Dinge, wie man sie wiederum nur von den Wutanfällen Zweijähriger kennt.
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Nonstop Nonsense
Dass die Königin dabei schon mal die Gurkennase einer Arcimboldo-inspirierten Gemüsedame/Zofe abreißt und verspeist, gehört zu den visuell einfallsreichen Momenten des Films. Denn - wie so viele andere Franchise-Filme auch, die in 3D einherreiten, schaut das halt immer irgendwie gleich aus und hat für eine, die sich auf dem Gebiet absolut nicht auskennt, eine Game-Ästhetik. Völlig absurd für mich, dass all diese Welten, die am Computer entstehen, einander immer so ähneln. Schaut man sich alte "Alice in Wunderland"-Verfilmungen an (z.B. die aus dem Jahr 1903), so wird man das Gefühl nicht los, dass die improvisierten, Low-Fi-Varianten in Sachen Wunderland der Welt, die Lewis Caroll erschaffen hat, irgendwie mehr gerecht werden, als das doch recht blitzblanke Wunderland, in das man hier entführt wird.
Aber herrlicherweise ist es die Sprache, die sich von allen anderen Blockbustern absetzt. Drehbuchautorin Lina Wolverton meistert es fabalhaft, die schwurbelige Nonsense-Sprache von Carroll immer wieder zu imitieren - oder zu zitieren. Oh, Alice, you always were an irksome, slurvish, interrupting thing! Hahahahaha!, brüllt die Herzkönigin und obwohl slurvish eine Erfindung Carrols ist, so weiß man instinktiv, was es bedeutet. Für jede fehlende Originalität in Sachen Bilderwelt, schenkt mir der Film große Freude über sprachliche Experimente.
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Eigenständig und furchtlos
Große Freude auch über die Lotte-Ingrisch-artige Anne Hathaway als fantastisch verhuschte White Queen (Hathaway ist überhaupt blond immer hervorragend, siehe auch "Brokeback Mountain"), aber das Herz des Films ist natürlich die unerschütterliche Mia Wasikowska. Keine andere Schauspielerin scheint momentan so ideal zu sein für Zwischenwelten, überhaupt haftet ihr eine Zeitlosigkeit (und irgendwie auch Alterslosigkeit) an, die sie geradezu perfekt als Alice machen: Die ist nämlich irgendwie Kind und unabhängige junge Frau zugleich.
Überhaupt, wann gibt es denn schon einen Blockbuster mit einer weiblichen Hauptrolle, die dann nicht auf der Suche nach einem Mann ist? Diese Alice ist eigenständig und furchtlos, loyal und stur. Und die Abenteuer im Wunderland inklusive Zeitreisen und der Zorn einer mächtigen Königin, sind nichts gegen die Repression in der echten Welt. Da nämlich deutet man Alice' Verhalten als typisches Beispiel weiblicher Hysterie, heißt also, Zwangsjacke, Beruhigungsmittel, Entmündigung.
Dass der Arzt im Weißen Kittel, der Alice die Injektion verpassen will, von Andrew Scott gespielt wird, der mir als narrischer Moriarty aus der BBC "Sherlock"-Serie noch in bester Erinnerung ist, passt perfekt. Die freudige Verkündung "We are all mad here" mag im Wunderland an der Tagesordnung stehen, in der Welt auf der anderen Seite des Spiegels wird jedes Verhalten von Frauen, das von der Norm abweicht als Verrücktheit - und mit Shenanigans der Gebärmutter - erklärt, die aus der Welt geschafft werden muss.
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Weapons in the war against reality
Weiterschauen
Wunderschön auch, wie Alice' Kostüme eine Geschichte erzählen, wie alle einengenden Teile irgendwann im Wunderland verlorengehen, wie sie später Culottes, ein Hemd und eine Weste trägt, also "Männerkleidung", und man sie später auch noch in einer Kapitänsunform sieht. Und so ist "Alice through the looking glass" ein kleines Wunder, eine feministische Hauptfigur, eine kämpferische junge Frau, die die Rolle verweigert, die ihr vorgeschrieben wird.
Das ist schon soviel mehr als das ganze Superhelden-Brimborium einem bis jetzt in Sachen weiblicher Figuren zu bieten hatte. "Imagination is the only weapon in the war against reality." so heißt es in Lewis Carrols Romanvorlage, "Alice through the looking glass" zeigt aber, dass sich Alice nicht nur mit ihrer Phantastie zu helfen weiß, um dem, was andere als Realität annehmen, etwas entgegenzusetzen.