Erstellt am: 23. 5. 2016 - 11:30 Uhr
Enttäuschendes Ende, falsche Entscheidungen
Was soll ich sagen? Ich bin enttäuscht. Nein, ich ärgere mich richtig. Gestern Abend wurden in Cannes die Preise vergeben, doch die Entscheidungen der Jury sorgen, gelinde gesagt, für Kopfschütteln. Der herausragende Film des Festivals, Maren Ades „Toni Erdmann“, den ein Großteil der Kritiker als Anwärter für die Goldenen Palme sahen, wurde von Jury-Präsident George Miller und seinen Ko-Juroren komplett ignoriert. Kein Preis, nirgends. Stattdessen gaben sie die Palme für den besten Film an Ken Loachs „I, Daniel Blake“, ein solides und ehrenwertes, aber schematisches Arbeitslosendrama.
Man kann es nur als politischen Preis sehen, filmisch hat der 79-jährige nichts Neues geschaffen, sondern bleibt der sozialrealistischen Inszenierung und seinem Lebensthema der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit treu. Es ist damit bereits das zweite Jahr in Folge, nach Jacques Audiards „Dheepan“, dass damit ein Regisseur für seinen nicht besten Film ausgezeichnet wird und die politische Relevanz den Ausschlag gab, diesmal die systematischen Gängelungen im britischen Sozialsystem, vor einem Jahr die Flüchtlingskrise. Cannes droht damit eine Berlinale im Abendkleid zu werden, wo bei einem Glas Champagner das Böse der Welt beweint wird.
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Die Jury-Wahl wird als eine der eklatantesten Fehlentscheidungen in der Geschichte des Festivals in Erinnerungen bleiben. Das arrivierte Altmännerkino gegen das junge, überraschende und feinnervige der 39-jährigen Maren Ade (deren Film mit seinem Setting in der Geschäftswelt von Bukarest darüber hinaus sehr viel subtiler von den Zwängen des globalen Kapitalismus erzählt als Loach – vom Witz und der Leichtigkeit mal ganz abgesehen). Apropos Witz: ein Schelm, wer böses dabei denkt, dass ausgerechnet Mel Gibson den Preis an den radikalen Anti-Israeli Ken Loach überreichte. Bleibt zu hoffen, dass „Toni Erdmann“ von dem Affront vielleicht sogar profitieren wird.
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Stirnrunzeln auch bei anderen Preisträgern: Xavier Dolans klaustrophobe Theateradaption „Juste la fin du monde“, das schrille und geschwätzige Familiendrama über einen jungen Mann, der nach 12 Jahren erstmals nach Hause zurückkehrt, um seiner Familie zu sagen, dass er todkrank ist, wurde mit dem Grand Prix ausgezeichnet. Den Jurypreis erhielt Andrea Arnold für überlanges Roadmovie „American Beauty“, dass mehr auf Atmosphäre als Handlung setzte. Völlig in Ordnung geht dagegen der Drehbuchpreis an den Iraner Asghar Farhadi für „The Salesman“, seine Meta-Adaption von Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“. Es lässt sich nur spekulieren, wie die Jury tickte. Zu vermuten ist, dass es kaum gemeinsame Nenner gab zwischen den Filmstars Kirsten Dunst, Mads Mikkelsen und Donald Sutherland, Sängerin Vanessa Paradis und den Regisseuren László Nemes und Arnaud Desplechin. Wie sonst lässt sich eine geteilte Auszeichnung für die beste Regie an zwei so grundverschiedene Filme wie Olivier Assayas mäandernde Geistergeschichte „Personal Shopper“ und Cristian Mungius stringentes Sozialdrama „Bacalaureat“ erklären? Auffallend ist auch, wie viele der Kritikerfavoriten die Jury übergangen hat, von Jim Jarmuschs verfilmter Alltagspoesie „Paterson“ über einen Gedichte schreibenden Busfahrer (von dem ich persönlich eher unterwältigt war) bis zu Jeff Nichols Bürgerrechtsdrama „Loving“.
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Der Tiefpunkt des Festivals war zwei Tage zuvor der neue Film von Sean Penn. In "The Last Face" spielen Charlize Theron und Javier Bardem zwei Ärzte, die in Kriegsgebieten wie Liberia und dem Sudan Menschenleben retten und sich dabei ineinander verlieben. Aber wie Sean Penn die Gräuel bloß als Hintergrundrauschen für diese zum Scheitern verurteilte Liebe einsetzt, ist einfach nur obszön.
Sehr viel spannender war da die anschließende Pressekonferenz, bei der sich das Ex-Traumpaar Charlize Theron und Sean Penn weit voneinander entfernt keines Blickes gewürdigt hat. Vor einem Jahr waren sie genau hier noch schwer verliebt zusammen über den Roten Teppich gelaufen. Triumph und Tragik liegen in diesen Tagen an der Croisette sehr nah beieinander.
Aber um jetzt diese Bilanz doch noch mit einer positiven Note zu beenden, ein paar Momente, die mir vom Jahrgang 2016 in Erinnerung bleiben werden:
Kristen Stewart, die mir im Interview staubtrocken erklärt, wie das mit der Zeitpsychologie bei Textnachrichten funktioniert („Da siehst du an den Pünktchen, dass jemand gerade schreibt und dann kommt nach drei Minuten: ‚OK’. Really? It took you that long to come up with that?!“)
Das Screening von Nicolas Winding Renfs zynisch-misogynem Topmodel-Schocker „The Neon Demon“, bei dem neben ein paar ermatteten Buh-Rufen sich ein spanischer Kollege noch mal richtig ins Zeug legte und ein herzhaftes „Onanista!“ rausbrüllte
Julia Roberts, die sich dem High Heels Gebot des Festivals widersetzt und barfuß im Abendkleid zur Galapremiere über den Roten Teppich läuft
Sean Penn, der er sich beim Interview in der Hotelsuite trotz Rauchmelder nicht nehmen ließ, sich eine Zigarette anzustecken (und auch sonst recht entspannt auf die Verrisse seines Films reagierte)
Sorry, und ein allerletztes Mal „Toni Erdmann“: all die Momente, in denen ich lachte, weinte und einfach nur mit offenem Mund dasaß, weil ich kaum glauben konnte, was ich da sah: der Whitney Houston Song, die Nacktparty, das bulgarische Fellviech... pures Kinoglück!
Festival de Cannes