Erstellt am: 20. 5. 2016 - 19:09 Uhr
Die alten Römer, Hitler, Napoleon und ihre neoliberale Sowjetunion
Ich muss zugeben, ich verliere ein bisschen den Anschluss an die Brexit-Debatte hier. Wir sind in Tiefen vorgedrungen, wo irgendwann der Weghör-Instinkt die Oberhand gewinnt.
Und trotzdem ist die Geschichte einfach zu wichtig, die bevorstehende Entscheidung zu potenziell verhängnisvoll, als dass man sich einfach so ausklinken könnte (wird Österreicher_innen auch bekannt vorkommen, das Problem).
Es ist schon wieder eine knappe Woche her, seit Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson in einem Interview mit dem Sunday Telegraph im Zuge der allgemeinen Hyperventilation einen direkten Vergleich zwischen Napoleon, Hitler und der EU zog:
Ganz klar: Die Eroberungszüge der napoleonischen Armee und die Unterjochung der Völker Europas durch die deutsche Wehrmacht waren also laut Johnson europäische Integrationsprojekte mit etwas gröberen Mitteln. Haben wir Hitler also schon wieder einmal missverstanden.
Es gab zwar gefühlt mehr öffentliche Empörung als Zustimmung zu Johnsons erstaunlicher Aussage, aber keineswegs so viel wie neulich Ken Livingstone, sein Vorgänger als Londoner Bürgermeister, für die Behauptung erntete, Hitler habe den Zionismus unterstützt.
Zugegebenermaßen gibt es ja auch durchaus Abstufungen in der Welt der Hitler-Vergleiche und der legéren Instrumentalisierung von Verbrechen gegen die Menschheit. Johnson hat immerhin nicht die Opfer der Judenvernichtung zu Verbündeten ihres Schlächters erklärt, sondern nur ein bisschen den letzten Weltkrieg für seine eigenen politischen Zwecke vereinnahmt.
Aber hinter seiner Äußerung stand mehr als bloß die plakative Flapsigkeit eines Hobby-Historikers auf Stimmenfang in der Zielgruppe "Spitfire Ale – The Bottle of Britain."
Lassen Sie mich ausholen:
Gestern hat das konservative Wochenmagazin The Spectator in erklärter Solidarität mit Jan Böhmermann (kennt ihr besser als ich) einen Preis für eine "President Erdogan Offensive Poetry Competition" ausgeschrieben. Gesucht war also das beste beleidigende Gedicht gegen den leicht angerührten starken Mann der Türkei, und die Schmäherkrone wanderte prompt an den eigenen Ex-Chefredakteur, einen gewissen Boris Johnson, der in seinem Anti-Erdogan-Limerick "Ankara" auf "wankerer" (wanker = Wixer) reimte.
In seiner Begründung für die Verleihung des Preises an Johnson schrieb der Spectator-Kolumnist Douglas Murray:
"Kanzlerin Merkel mag Erdogans Kritiker in Deutschland einsperren. Aber in Britannien leben und atmen wir noch frei. Wir brauchen keinen fremden Potentaten, der uns sagt, was wir denken oder sagen sollen. Und wir brauchen keinen Richter (schon gar keinen deutschen), um uns zu erklären, was wir lustig finden dürfen."
Lassen wir einmal beiseite, dass Boris Johnson selbst 2007 nicht nur für einen Beitritt der Türkei zur EU eintrat, sondern in einem im Daily Telegraph veröffentlichten Auszug aus seinem Buch "The Dream of Rome" sogar genau jene Renaissance des alten Rom heraufbeschwor, vor der er jetzt so leidenschaftlich warnt ("Dies ist ein Traum, den es sich wiederzubeleben lohnt – und nicht bloß, weil er die Hoffnung birgt, die zwei Hälften des Römischen Reichs rund um die Strände des Mittelmeers wieder zu vereinen.").
Dass Johnson heute das Gegenteil von sich gibt, lässt sich mit einigem guten Willen als seine Reaktion auf die Veränderung der politischen Lage begründen, selbst wenn er dabei das alte Rom als wertende Allegorie je nach Gelegenheit einfach mit umgekehrten Vorzeichen verwendet.
Was aber in Douglas Murrays Blog genauso wie in Johnsons Hitler- und Napoleon-Vergleich zutage kommt, ist der blanke Chauvinismus der Brexit-Fraktion, die es sich nicht verkneifen kann, selbst in der Solidarität mit einem Deutschen noch Gelegenheit zum Herausstreichen der zivilisatorischen Überlegenheit des eigenen Nationalcharakters zu finden.
Doch das Bild der Insel als letztes Bollwerk gegen jede Tyrannei findet sich nicht bloß auf der Rechten.
Ausgerechnet Paul Mason, Ex-BBC- und Channel-4-Wirtschaftskorrespondent, der sich als Autor des Buchs „PostCapitalism – A Guide To Our Future“ einen Ruf als Stimme einer neuen Linken erarbeitet hat, veröffentlichte diese Woche eine Kolumne im Guardian, in der er munter nach ethnischen Kriterien pauschalisierend die "unreife Wählerschaft" anderer europäischer Staaten als Argument für eine Distanzierung von Europa ins Treffen führte.
Suhrkamp, Jürgen Bauer
Vor drei Wochen war es ihm noch an der Suspendierung Österreichs von der EU gelegen, falls das Land sich einen "gesäuberten Faschisten" zum Bundespräsidenten wählt.
Diese Woche dagegen liebäugelte Mason mit einer linken Ratio für den Brexit, wenngleich noch nicht jetzt, denn: "Die Zeit, Europa über eine linke Agenda zu konfrontieren, ist gekommen, wenn man eine Labour-Regierung hat, und die EU ihr widersteht."
Das kann, so wie es in Großbritannien innenpolitisch gerade aussieht, ja noch eine ganze Weile dauern.
Mason käme es offenbar gar nicht erst in den Sinn, solch eine künftige Labour-Regierung als Plattform dafür zu verwenden, seine linken Agenden auch in Europa zu etablieren (nicht dass die letzte Labour-Regierung irgendwas dergleichen getan hätte, aber das steht auf einem anderen Blatt). Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, sich international gegen den Neofaschismus zu organisieren, den er – sehr richtig – überall in Europa aufkommen sieht.
Nein, er will sich lieber von den Unverbesserlichen da drüben lossagen, denen er als reiferer britischer Demokrat ohnehin nicht über den Weg traut.
Vom einst auch von der britischen Linken beschworenen Internationalismus ist hier nichts mehr zu hören. Ausgerechnet in Zeiten der Globalisierung verkriecht man sich lieber in die eigene kleine Welt und konkurriert so mit dem nationalen Rechtspopulismus auf isolationistischer Augenhöhe (viel Spaß mit UKIP).
Wie er von Großbritannien aus zwischen den USA und dem neoliberalen Block der EU seine postkapitalistische Utopie verwirklichen will, lässt Mason jedenfalls nicht durchblicken. Dafür erzählte er gestern in der BBC-Sendung Question Time davon, dass die neoliberalen Dogmen der EU Großbritannien daran hinderten, die walisische Stahlindustrie zu retten.
Wiewohl er wissen sollte, dass es die britische Regierung selbst war, die ihr Veto gegen den Schutz des europäischen Stahls vor Chinas Dumpingpreisen aussprach.
Nur ein Detail, vermutlich.
Ein Tor, wer meint, dass sich gerade im neoliberalen Kurs der EU der von linker wie rechter Brexit-Fraktion verleugnete britische Einfluss in der Staatengemeinschaft manifestiert.
Ich hab schon vorigen Sommer über die romantische Idee eines linken Brexit geschrieben, die der Autor Owen Jones damals Lexit nannte. Jones selbst ist inzwischen gemeinsam mit Jeremy Corbyns Labour Party eindeutig auf die Stay-In-Seite umgeschwenkt.
Dafür hat sich heute Larry Elliott, Wirtschaftsredakteur des (quasi) linksliberalen Guardian, zu einem Plädoyer für Brexit hinreißen lassen, das die EU als neoliberalen Spielplatz beschreibt, ohne etwa zu erwähnen, dass es gerade Großbritannien war, das die Finanztransaktionssteuer blockierte und seit Jahrzehnten beharrlich Druck in Richtung Deregulierung macht.
Für seinen Teil sieht Elliott keine Möglichkeit, sich in der EU je eine Stimme zu verschaffen, denn, diese ist, wie er in seinem Schlusssatz feststellt, „nicht die USA ohne den elektrischen Stuhl, sondern die UdSSR ohne Gulag.“
Wieder ein messerscharfer historischer Vergleich, der der Welt bisher abgegangen war.
Da braucht der Guardian sich über Boris Johnson eigentlich gar nicht mehr zu beschweren.
Suhrkamp
Wie gut, dass es eine britische Nationalität als Gegenmodell zu dieser von Hitler und Napoleon vorbereiteten Sowjetunion des Neoliberalismus gibt. Ich lass mich davon überzeugen und hoffe, ich darf nach dem 23. Juni als assimilierter Ausländer hier im Land der Freiheit und der Selbstbestimmung bleiben.
Am 23. Mai übrigens, also einen Tag nach der Bundespräsidentenstichwahl, wird Paul Mason sich in Wien aufhalten und dort im Kreisky Forum aus seinem Buch vorlesen und sich mit Robert Misik darüber unterhalten.
Je nach Ausgang der Wahl kann er euch dort dann erklären, ob zuerst Österreich von der EU suspendiert werden oder Großbritannien aus ihr austreten soll. Der einen Strafe ist der anderen Segen. Bin als Zuwanderer in diesem Land immer noch zu unreif, das zu verstehen.