Erstellt am: 20. 5. 2016 - 13:25 Uhr
Die Gesamtgesellschaft des Rock
"Will he deliver?". Die Skepsis vor der Tour der größten Rockband der Welt mit dem abgehalfterten Schminkschreihals aus den Neunzigern - der in letzter Zeit für Gewichtszunahme und Publikumsbeschimpfung berühmter geworden war als für die am längsten verschleppte Soloplatte der Geschichte - diese Skepsis hätte nicht größer sein können. Als Brian Johnsons Arzt diesen am Weitersingen gehindert hatte - und seit sich der Chef von AC/DC an nichts mehr erinnern kann - war den Fans sogar angeboten worden, ihre Tickets gegen volles Geld wieder zurück geben zu dürfen. Man könnte sich vorstellen, dass dies das letzte Mal nach dem Rockstartod ihres (eigentlich unersetzbaren) ersten Sängers passiert ist.
Christian Stipkovits / FM4
Die Gesamtgesellschaft des Rock
So wie es aussieht, haben nicht sehr viele Menschen dies in Anspruch genommen. Gefühlt hat sich ganz St. Pölten im Happel Stadion eingefunden, 50.000 Menschen - es mag abgebrühtere Leute geben, ich bin von sowas immer wieder beeindruckt - und: Nein, es waren nicht nur alte Männer.
Christian Stipkovits / FM4
Wie eigentlich erwartet, findet man hier das heterogenste Publikum, das bei einem Rockkonzert möglich ist: Junge Männer, deren Eltern, alte Männer mit langen Haaren, ältere Männer ohne Haare, zehnjährige Buben mit Opa und Papa, Mann/Frau/beste Freundin der Frau (damit diese sich nicht alleine langweilt, wenn der Gatte seinen head bangt), Frau/ Mann/bester Freund des Mannes (damit dieser sich nicht alleine langweilt, wenn die Gattin ihren head bangt), italienischer, rumänischer, Vorarlberger, ungarischer, steirischer Betriebsausflugskleinbus, die Clique von wankenden jungen Männern, die bereuen, sich bereits vor dem Konzert mit dem Dumping-Dosenbier vor der U-Bahn "eingeölt" zu haben, die Clique von jungen Frauen in einer Art S&M-/Automechanikerinnen-Uniform, die fortwährend Selfies mit graubärtigen Lederjackenträgern macht. Dosenbier und Brezen. Jeans und Aufnäher. Fahnen, Kutten und Tattoos, sogar ein paar Schuluniformen. Friedliche Altrocker-Stimmung eben. Scheiß auf Jugendkultur, wir sind auf der größten Party, die mittels Gibson SG und Marshall hergestellt werden kann, und hier sind alle eingeladen.
Das Raumschiff landet
Choreo-Schmäh 1: Für 10 Euro konnte man rot blinkende aufsetzbare Teufelshörner erwerben - was dann auch etwa 5000 Leute gemacht haben. Ein Fußballstadion voller rot blinkender Glühwürmchen war das Ergebnis.
Choreo-Schmäh 2: Pünktlich 20.40 führt uns ein Film auf der Riesenleinwand in den AC/DC-Mythos ein. Und der geht so: Die NASA-Expedition auf dem Mond will gerade diesen für sich einnehmen, da muss sie doch mit angstgeweiteten Augen feststellen: Sie sind nicht alleine dort. Nicht nur, dass die Australische Fahne am Mond schon weht, man hat den schlafenden Hund AC/DC geweckt, der nun losstartet, und ein Feuerball, auf dem AC/DC steht, jagt nun auf die Erde zu, vorbei an einer riesenhaften, beleibten Dame (der wir noch begegnen werden) und detoniert mitten in einer Stadt. Bumm! geht auch die Bühne in Flammen, Rauch und Getöse auf. Der "Rest" des "Raumschiffs" AC/DC, verbogenes und zerstörtes Altmetall, ist die Bühnendeko des Abends.
Jetzt sind sie da, mit "Rock or Bust" gehts los, jeder weiß, was jetzt kommt, und es kommt.
Und: "Yes, he did deliver."
Christian Stipkovits / FM4
One Trick Pony
"Axl, passt eh" brüllt jetzt ein begeisterter Fan in mein Ohr. Seit 1973 hat der ewig tourende Tross der Young-Brüder zwei Sänger verbraucht. Der erste war eigentlich gar kein Metal Shouter. Mit rauhem Soul und gemeinem Verbrecher-Timbre (und dem dazugehörigen, ausgezehrten Look) hatte Bon Scott den Ian Gillians und Klaus Meines des Genres einen krediblen Gegenpol zu ihrem jodelhaften Opernregister hingeworfen und AC/DC aus den siffigen Kellern in die Mitte der Rockgesellschaft bugsiert. Unersetzbar.
Der zweite Sänger ging auf der Skala schon mehr in Richtung Metal Shouter, mit schneidend hoher Lage. Auch er mit viel Körper und Druck, aber den Straßen-Soul ließ der freundliche Riese Brian Johnson vermissen - ein "One Trick Pony", dessen einer Trick aber für 35 Jahre AC/DC und deren "langen Weg an die Spitze" gehalten hat.
Christian Stipkovits / FM4
Jetzt sind wir beim nächsten Pony, wieder nur ein Trick, fast ganz am anderen Ende des Metal-Shouter-Spektrums, noch höhere Lage, fast gar kein Körper (in der Stimme wohlgemerkt) - dieses hohe Kreischen beherrscht Axl Rose allerdings am besten von allen. Dieser Trick muss ja auch nur mehr so lange halten, bis Angus Young keine Lust mehr hat, höchstwahrscheinlich werden das keine 35 Jahre mehr sein.
"Passt eh, 'Ride On' und 'Night Prowler' kann er halt nicht", gebe ich zurück - "Das spielen sie eh nicht", so mein glücklicher neuer Freund. Recht hat er. Und Axl hat es gar nicht sehr schwer bei den Jüngern.
Es geht dahin. "Hell", "Dirty Deeds", "High Voltage", "Back in Black". Wir begegnen der beleibten Dame aus dem Vorfilm wieder; es ist natürlich, wie die AC/DC-Fans schon wussten, "(Whole Lotta) Rosie", für die Bon Scott das meines Wissens nach einzige schwärmerische Liebeslied an ein dickes Mädchen geschrieben hat. Dann "TNT", "Let there be Rock", "Thunderstruck", "Riff Raff", "Hells Bells", die Glocke, die Kanonen. Man erkennt alles nach einer Sekunde, alle shouten mit.
AC/DC sind die Band der Mikrosekunden. Nichts in ihrer Musik ist übertrieben sophisticated, mit den offenen Peter Bursch-Akkorden A-G-D kommt jeder Gitarrist duch vielleicht 70 % ihres Repertoires. Im Text die immergleichen Varianten von Hell/Booze/Stänker/Zwinker, Stampfbeat/Discobeat/funkige Synkope... aber wie eine hochkonzentrierte Sixties Jazz Band, hören diese Leute auf Nuancen, die sich im kaum spielbaren Bereich bewegen. Der Rhythmus dieser Musik variiert in winzigen Millisekunden-Einheiten - Schlagzeug ein bisschen holprig hinten, dann wieder treibend vorn, Rhythmusgitarre ein bisschen vorn, dann wieder leicht hatschert, Leadgitarre immer synkopisch, aber auch da immer ein bisschen vorn oder hinten, alles zusammen soll aber diesen geraden Tonnenschwer-Eindruck vermitteln, der nur mit federleichter Variation hergestellt werden kann. Unnachahmlich. AC/DC-Coverbands können einem Leid tun. Vielleicht ist das alles deshalb so auf den Familienbetrieb ausgelegt, weil Nicht-Eingeweihte größte Schwierigkeiten haben, den unvergleichlichen, auf jeden Fall un-metalligen Groove dieser Band hinzukriegen (anstatt des armen Malcolms ist ja schon wieder ein Young-Neffe zu hören, für den irren Phil Rudd ist ein altes Mitglied aus den 90ern eingesprungen).
Christian Stipkovits / FM4
Christian Stipkovits / FM4
Und nicht zuletzt: Angus Young besticht durch Aktivität. Vielleicht haben nicht nur ich, sondern vor allem die vielen älteren Herren im Publikum den Gedanken, wie nett und lebensfreundlich der Gedanke doch ist, dass dieser superkindische Typ trotz all der Millionen noch jeden Abend nichts lieber tut, als vor 50.000 Menschen wie ein Rumpelstilzchen herumzuzappeln, in einer Schuluniform sein Chuck Berry-Solo und seine drei Akkorde zu variieren, Hörner aufzuhaben, mit seiner Krawatte an der Gitarre zu solieren, sich auf den Rücken werfen und jedes Lied auf sein Sprungkommando mit einem kurzen abgestoppten Gitarrenlärm gleich enden zu lassen.
Irgendwie hat das dann etwas von einer selbstvergrößernden, lebenströstenden Macht, einem unernsten Stück Scheißegal-Zuversicht, das man nicht ohne weiteres überall bekommt.