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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

18. 5. 2016 - 18:34

The daily Blumenau. Wednesday Edition, 18-05-16.

Man kann "die Leute" nicht "abholen", schon gar nicht in alten Zielgruppen, sondern nur die Ursachen einer kollektiven gesellschaftlichen Depression bekämpfen.

#demokratiepolitik

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.

Klassische Klientelpolitik führt, ebenso wie rein zielgruppenorientiertes politisches Handeln zu nichts mehr. Menschen können nicht mehr in homogenen Gruppen abgeholt werden. Das einzige, was sie eint, ist ihre Verunsicherung, ist die kollektive Depression einer ausgelaugten Gesellschaft. Etwas, was sich nur mit einer ernstgemeinten und gemeinsamen Vision beheben lässt.

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Die ÖVP beherrschte früher die Kunst, so viele Klientele/Zielgruppen (Bauern, Industrie, Kleingewerbler, Beamte, gehobene Angestellte) unter einen schwarzen Hut zu bringen, dass sie der damals noch homogenen Klientel der noch untergebutterten, aber selbstbewussten Werktätigen, die die SPÖ als ihren Besitz wähnte, Paroli bieten konnte. Die Grünen konnten einst Klientelpolitik, jetzt nicht einmal mehr das, die Neos lernen es noch. Mittlerweile knabbern alle mehr schlecht als recht an den Hungertüchern ihrer Zielgruppen-Konzepte.

Die FPÖ verabschiedete sich mit Haider von dieser klassischen Konzeption. Zumal der Versuch einen Spagat zwischen Nationalliberalen und den dem 3. Reich Nachtrauernden hinzukriegen, nicht gerade abendfüllend war.

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Der strategische Turnaround war radikal. Seine Grundthese besagt: homogene und berechenbare Wählergruppen wird es in Zukunft nicht mehr geben, Klientelpolitik, die konkreten Zielgruppen Vorteile verschafft, wird also keine Wirkung zeigen. Stattdessen wird sich die Wahlentscheidung über die grundsätzliche Gefühligkeit der Menschen ergeben. Und die definiert sich jenseits von Fakten, über ein extrem subjektives "wie geht es mir?".

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Es ist eine diffuse Unzufriedenheit, dieses Grundgefühl den Anschluss zu verpassen, benachteiligt und von Entwicklungen überrollt zu werden. Und es ist egal, ob das durch die Globalisierung, das neue Europa oder die träge gewordenen Machteliten einsickert. Dort, wo die Ökonomie, die europäische Idee oder die nationalstaatlichen Organe keine visionäre Kraft aufbringen können, die den Menschen Sinn vermittelt (und sie nebenbei auch so entlohnt, dass sie würdig existieren können) werden sie als zusätzliche Belastung empfunden, als Mühlsteine. Der Staat, der soziale Absicherung, Bildung und eine kontinentale Version des "persuit of happiness" bietet, die nährende Mutter, wird zunehmend als Feind wahrgenommen. Der Vilimskysche (zuletzt Sonntag getätigte) Spruch von der Demokratieverdrossenheit der Österreicher wird zur self fulfilling prophecy.

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Die Verdrossenheit weitet sich in die tiefsten Furchen des Privaten, sie erweitert sich zur Ausweglosigkeit; als Feindbild baut man überall Mächte auf, die das Fortkommen verhindern. Statt diese Haltung als närrische Verschwörungstheorie abzutun, sollten wir sie aus einem anderen Blickwinkel betrachten: nämlich als Anzeichen einer ausgewachsenen Depression.

Einer gesellschaftliche Depression mit nachvollziehbaren Ursachen, einem klaren Krankheitsbild und vorgezeichnetem Verlauf, die Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft erwischt und ansteckt wie eine Grippe-Epidemie.

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Nun lassen sich die Nationalisten ebenso wenig von Europa abholen wie Xenophobe von der Willkommenskultur oder die Menschen, die sich einen kleinen Hitler direkt ins ZDF-Mikrophon wünschen von der Demokratie: Sie sind in ihren Ansichten gefestigt.

Die Masse der Menschen aber, die diese depressive Bewegung tragen, ist nicht ideologisch gefestigt, sondern von ihrer Depression getrieben: das reicht vom zehrenden Gedanken, dass es so nicht mehr weitergehen kann, dass der Untergang droht, bis hin zur drückenden Erkenntnis, dass in einer Gesellschaft ohne echte Aufstiegschancen dafür mit echten gläsernen Decken es die Kinder nicht besser haben werden; dass man um ein klassisches Diktum, das Mantra der Aufstiegs- und also Leistungswilligen, betrogen wurde.

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Irgendwann, wenn ein paar Dinge zusammenkommen und man die zunehmend leerer werdenden Versprechungen der Elite nicht mehr glauben mag, wenn die Moral der ökonomischen Leader ins Bodenlose wegbröselt und wenn auch noch handfeste Krisen anstehen, die ungelöst vor sich hin köcheln, wenn klar ist, dass sowohl die Hypo-Zeche als auch die Asyl-Ausweitung wieder auf die Masse abgewälzt wird, wenn Gewinne weiter privatisiert und Verluste weiter sozialisiert, also auf den Staat also auf den Steuerzahler abgewälzt werden, ist die Stunde der Populisten gekommen: sie können mit ihrer klientellosen/freien Sprache die Wut kanalisieren, bieten eine Heimat für jede Art von Frustabbau.

Und dann ist es egal, ob das von Trump, Le Pen oder Erdogan aufgefangen wird. Es ist auch egal, wie politisch eine Gesellschaft einmal war - sobald eine kritische Masse an Menschen in ein "Mir geht es schlecht und ich gebe meine Stimme dem, der sagt, dass er mich da rausholt" driftet, kippt sie.

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Das Angebot, das die Populisten in so einer Situation legen, ist bewusst immer nur kurzfristig wirksam, salbt die Schrammen der angekratzten Seelen, bietet aber trotz eines zentralen Heilsversprechens keine Lösungen an - gilt es doch die Unzufriedenheit, die Verdrossenheit, die Depression also die Nährlösung für den Populismus, hochzuhalten, gilt es doch die "mir geht es schlecht"-Stimmung aufrechtzuerhalten, also die Depression zu perpetuieren, künstlich zu verlängern. Das kann auch über hurrapatriotische Pfeifen-im-Walde passieren, also wie eine produktive Aktion wirken, erschöpft sich aber im Kern immer als Weiterdreh der Unwohlfühl-Schraube.

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Das Angebot, das die demokratischen Parteien mit Gestaltungswillen legen müssen, um die Depression, die sie über ein populistisches Voting in politischer Geiselhaft hält, zu überwinden, wird sich nicht in emotionslos-technokratischen Aktivitäten erschöpfen können.
Es braucht das, was von einem Altvorderen, der jetzt aus der Distanz gute Ratschläge gibt, einst spöttisch als Grund bezeichnet wurde, besser den Arzt aufzusuchen: Es braucht eine öffentlich geteilte Vision. Es bedarf keiner Wunderheilung, sondern im ersten Schritt einmal der Erkenntnis, dass der Kipp-Punkt in die kollektive gesellschaftliche Depression eigentlich schon erreicht wurde; um sie damit zumindest einmal aufzuhalten, ehe sich ein Flächenbrand entfacht.