Erstellt am: 18. 5. 2016 - 15:14 Uhr
Pelzige Freunde, verbotene Beziehungen
Vor zwei Tagen war ich ein weißes Fellhäschen. Zumindest sechs Minuten lang. Der ehemalige Dreamworks-Regisseur Eric Darnell ("Antz", "Madagascar") macht jetzt Virtual Reality und ich durfte mir am Rande des Festivals seine erste Animation INVASION! ansehen. Oder besser: erleben. Denn wenn man mal diese Riesenbrille aufhat, taucht man in eine komplett andere Welt ein, 360 Grad. Links und rechts: schneebedeckte Berge. Oben: Wolken. Unten: die Eisplatte eines Sees und... oh, ich hab plötzlich einen weißen Pelzbauch und fluffige Pfoten.
Baobab Studios
Als ich wieder hochblicke, hoppelt ein kleines Bunny direkt auf mich zu und schaut mich mit großen Augen an. Süß, aber auch ein bisschen gruselig, es ist so groß wie ich. Aber ich habe gar keine Zeit, über meine Körpergröße nachzudenken, weil da schon ein UFO auf uns zurast und zwei blaue Alienmännchen zu uns gebeamt werden, die uns mit ihren Lasertentakeln abschießen wollen. Und ich kann mich leider nicht wehren, ich bin ja nur ein kleines Häschen. Zum Glück hat mein neuer Bunnybuddy eine Idee, wie man die fiesen Aliens wieder verscheuchen kann... und ich bin froh, am Ende meine Brille abnehmen zu können und doch am Strand von Cannes zu stehen und keine Hasenpfoten zu haben.
Festival de Cannes
Apropos pelzig: Das drei Meter hohe Fellviech aus Maren Ades sensationellem "Toni Erdmann" führt mittlerweile ein Eigenleben außerhalb des Films. Zuerst tauchte es überraschend beim Foto-Call auf und ließ sich mit der Regisseurin und Hauptdarstellerin Sandra Hüller fotografieren, am Tag danach stand es plötzlich am Eingang des Festivalpalais und wollte an der Security vorbei. Aber nix da, wer kein Festivalbadge hat, kommt da nicht rein. Bin gespannt, wo es sich in den nächsten Tagen noch blicken lässt. Als ich mit Maren Ade über ihren Film rede, bin ich fast ein bisschen enttäuscht, als sie mir verrät, dass es sich dabei um ein bulgarisches Kukeri-Kostüm handelt und mir erklärt, wie es funktioniert.
Über "Toni Erdmann" hatte ich ja beim letzten Mal schon geschwärmt und der Film geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Wie den meisten hier auf der Croisette. Im Kritikerspiegel der Branchenbibel "Screen International" hat er bei der Punktevergabe sogar den Alltime-Rekord gebrochen. Und längst wird über Preise spekuliert. Die Goldene Palme ist in meinen Augen die zwingendste Variante. Ich habe bislang nichts gesehen, was auch nur annähernd an die Vater-Tochter-Tragikomödie heranreichen würde. Möglich wäre auch der Darstellerpreis an Sandra Hüller oder Peter Simonischek. Oder an beide. Sollte es "nur" der Drehbuchpreis werden, wäre es fast eine Beleidigung.
Carole Bethuel
Wenn es derzeit einen Gegenpol zu "Toni Erdmann" gibt, was die Reaktionen angehen, die sie hier hervorrufen, dann ist es Olivier Assayas’ "Personal Shopper". Der wurde am Montagabend ziemlich ausgebuht. Und ja, sein Mix aus Geistergeschichte, Promiwahnsinn und Identitätsfindung einer jungen Frau ist ein streckenweise wirres Durcheinander, aber diese Häme hat er nun wirklich nicht verdient. Assayas schickt wie schon im Vorgänger "Die Wolken von Sils Maria" seine neue Muse Kristen Stewart als moderne Celebrity-Sklavin durch die Straßen von Paris auf der Jagd nach den neuesten Designerklamotten für ihre Klientin, eine dieser Stars, die im Internetzeitalter für nichts als sich selbst berühmt sind (gespielt von der Österreicherin Nora von Waldstätten).
Sie hasst ihren stupiden Job und die Arroganz ihrer Chefin, die sie nie zu Gesicht bekommt, aber sie braucht das Geld, um in Paris auf einen Kontakt mir dem Geist ihres verstorbenen Zwillingsbruders zu warten. Denn sie ist ein Medium. Irgendwann bekommt sie SMS-Nachrichten von einem Unbekannten und lässt sich auf ein riskantes Spiel mit ihm ein. Ja, es ist genauso gaga wie es sich liest, aber in seiner Konsequenz auch bemerkenswert. Und Kristen Stewart ist schon eine ziemliche Präsenz, die sich stoisch durch dieses Chaos eines Films kämpft. Ich bin sehr gespannt, sie heute Nachmittag zum Interview zu treffen.
Carole Bethuel
Zwischen den Filmen hetzt ein Teil der Pressemeute zu den Nobelhotels und Strandlounges an der Croisette, wo die Interviews zu den Filmen stattfinden. Und weil hier jeder Quadratmeter Gold wert ist und nur stundenweise vermietet wird, finden die dann kurioserweise meist an Orten statt, an denen man kaum sein eigenes Wort versteht: neben der Entlüftungsanlage, in einem Zelt, in dem parallel gerade einem Studioboss ein Ständchen gesungen wird oder auf einem Hoteldach, wo einem der Wind um die Ohren pfeift. Aber dann wird man doch immer wieder versöhnt, wenn sich ein Gesprächspartner als interessanter oder sympathischer herausstellt als erwartet.
Chloe Sevigny
Bei Chloe Sevigny ging mir das so. Die New Yorkerin, die mit Larry Clarks "Kids" Mitte der Neunziger zum IT-Girl ihrer Generation, später dank Filmen wie "American Psycho" und "Boys Don’t Cry" zur Queen des Indiekinos wurde. Sie begüßt mich wie einen alten Bekannten, dabei habe ich sie nur einmal vor fünf, sechs Jahren interviewt. Ich bin sofort hin und weg. Als ich ihr erzähle, dass ich für FM4 berichte, ist eh alles klar. "Hey, meine Schwägerin ist aus Österreich! Mein Bruder und sie leben bei mir um die Ecke, aber wir waren zur Hochzeit dort, an so einem Alpensee, sehr idyllisch." Als ich sie frage, ob sie als gestandene New Yorkerin einen Kulturschock hatte, meinte sie: "Es war eine tolle Erfahrung, weil mir plötzlich klar wurde, woher sie kommt und wie sie tickt. Sie ist sehr direkt und ich habe anfangs ihren Humor nicht verstanden. Wir sind uns durch die Reise viel näher gekommen." Und während sie genüsslich eine ganze Platte mit diversem Käse verschlingt, erzählt sie, wie vernarrt sie in ihren fünf Monate alten Neffen ist. Er heißt, auf ausdrücklichen Wunsch seines amerikanischen Vaters: Wolfgang.
Von dem "IT-Girl"-Label ist sie schon lange genervt. "Wie lange klebt das noch an mir? Ich bin eine 41 Jahre alte Frau!" Und klar, sie ist eine tolle Schauspielerin (zuletzt war ich in "American Horror Story" von ihr begeistert), sie entwirft Mode, schreibt und hat gerade ihren ersten Kurzfilm inszeniert. In "Kitty" verwandelt sich ein kleines Mädchen langsam in eine Katze. Sehr süß, sehr schräg, sehr stilsicher. Und ein weiterer Beweis, dass Chloë Sevigny weit mehr ist als eine verdammt coole Frau.
Manolo Pavón© El Deseo
Eine der größten Frauenversteher des Kinos ist Pedro Almodóvar. Der spanische Regisseur ist ein der Cannes-Darlings seit Jahren, auch wenn sein letzter Film, die Flugzeugkomödie "Fliegende Liebende", wohl zu albern war. Jetzt kehrt er zurück und liefert mit "Julieta" sein bislang reifstes, dabei ungewöhnliches zurückgenommenes Drama. Es geht um die Suche einer Mutter nach ihrer verschwundenen Tochter und den Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit und Almodóvar kommt dabei ganz ohne grelle Zwischentöne oder überhöhte Charaktere aus. Das lose von drei Erzählungen der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro inspirierte und raffiniert komponierte Drama ist eine feinnervige Auseinandersetzung um familiäre Geheimnisse und das Schweigen über Vergangenes und uneingestandene Schuld. Die Kritik ist gespalten, was sie von dem Film halten soll, ich mag ihn sehr.
Auf der anschließenden Pressekonferenz passierte das Unausweichliche. Almodóvars Name war in den Panama Papers aufgetaucht und er hatte daraufhin alle Pressetermine zum spanischen Filmstart Anfang Mai abgesagt. In Cannes wird er gleich darauf angesprochen und er gibt eine filmreife Antwort: "Mein Bruder und ich sind die unbedeutendsten Namen auf dieser Liste. Wenn es ein Film wäre, wären wir nicht mal Komparsen. Aber die spanischen Medien haben uns zu Hauptdarstellern erklärt."
Mary Cybulski
Jim Jarmusch ist gleich mit zwei Filmen hier. Seine Doku über Iggy Pop kommt erst noch, mit seinem Spielfilm "Paterson" hat er (fast) alle begeistert. Sein Porträt eines Gedichte schreibenden Busfahrers ist eine Ode an New Jersey und seine Menschen, an die Poesie und die Liebe, aber mich haben die stilisierte Banalität und die ausgestellten Rituale seines Alltags zwischen Lenkrad und der Wohnung mit künstlerisch ambitionierter Freundin und geräuschvoll-trägem Hund ziemlich gelangweilt. Umso erfreulicher war die anschließende Begegnung mit dem Hauptdarsteller Adam Driver, Bösewicht im letzten "Star Wars" und einer der Jungs in der HBO-Serie "Girls".
Ich hatte einen etwas maulfaulen Typen erwartet, aber er war total gesprächig und dabei bodenständig, selbstironisch und wirklich sehr sympathisch. Er erzählt, dass er aus der Galapremiere von "Paterson" geschlichen hat, weil er es nicht aushält, sich selbst auf der Leinwand zu sehen. "Das führt zu fünf Monate Depression! Ich sehe all die Fehler und was ich hätte besser machen können." Die einzige Ausnahme: "Star Wars". Den hat er sich angeschaut, dazu ist er einfach zu sehr Fanboy. Als der japanische Kollege findet, dass es ja unglaublich lustig sei, dass er Driver heiße und im Film einen bus driver spiele, fürchte ich kurz, dass der Hüne handgreiflich wird. Im Gegenteil. Ohne eine Miene zu verziehen erklärt er mit einer Engelsgeduld: "Das war wahrscheinlich einer von Jims Insiderwitzen. Sein Film ist voll davon – und viele versteht nur er." Chapeau für diese Reaktion!
Ben Rothstein © Big Beach, LLC
Sehr viel mehr konnte ich mit "Loving" anfangen, Jeff Nichols ganz unaufgeregtem, klassischem und deswegen für mich umso bewegenderen Rassendrama. Darin geht’s um den wahren Fall aus den amerikanischen Südstaaten Ende der 50er: Ein einfaches Paar aus der Arbeiterschicht, ein weißer Maurer und seine afroamerikanische Frau, deren Ehe von der Justiz ihres Bundesstaates Virginia nicht geduldet wird. Ihr Gerichtsprozess wird ein Jahrzehnt später die schwarze Bürgerrechtsbewegung verändern, ohne dass sie sich selbst als Kämpfer sehen, sondern einfach nur ihr Leben leben wollen. Ein ganz starker Film zur richtigen Zeit.
Das Festival selbst zeigt noch keine Ermüdungserscheinungen. Im Endspurt gibt es immer noch einige Filme, auf die ich sehr gespannt bin. Heute Abend der neue von Xavier Dolan, "Juste la fin du monde" mit Marion Cotillard und Vincent Cassell, danach Nicolas Winding Refns "The Demon Lover", dessen Trailer schon ziemlich gut aussieht, sowie die neue Regiearbeit von Sean Penn, "The Last Face" mit Charlize Theron und Javier Bardem. Und dann natürlich noch ein Festivalliebling: Der Iraner Asghar Farhadi, der mit "Nader und Simin – eine Trennung" 2009 den Goldenen Bären der Berlinale bekommen hat, könnte jetzt mit "Forushande" noch eine Goldene Palme daneben stellen. Sonntagabend nach der Verleihung wissen wir mehr.