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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

18. 5. 2016 - 14:21

Patriotische Pflicht

Der ESC ist ein eigenartiger Event! Alle sagen, dass die Lieder scheiße sind, dass es langweilig ist und dass die Message stark politisiert ist. Trotzdem schauen alle und sind stolz, wenn ihr Land gewinnt.

Mit Akzent

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In meiner internationalen WG gibt es ein Fernsehgerät. Niemand schaut lange fern – meine Mitbewohner sind hauptsächlich damit beschäftigt zu arbeiten oder zu saufen. Es wird nie gestritten, was geschaut werden soll – eine Serie oder eine Sportveranstaltung. Meistens höre ich am Abend, dass der Fernseher eingeschaltet ist und sehe jemanden, der davor eingeschlafen ist. Ich schalte aus und gehe schlafen. Es gibt keine Dramen.

Wenn aber der ESC-Abend näher kommt, werden die Kandidaten, die fernsehen wollen, immer mehr. Jeder der Mitbewohner beschimpft die Kandidaten der anderen Länder. Ich höre immer ironische Kommentare über die Kleidung, die Haarschnitte und das Aussehen der ESC Kandidaten. Jeder sagt, man soll den Sender wechseln, aber wenn das Lied ihres Heimatlandes kommt, bleiben alle plötzlich still.

Jamala

APA/AFP/Jonathan Nackstrand

Am Ende gewann dann die Ukraine

Als das russische Lied anfing, versuchte ich was zu sagen, aber der normalerweise ruhige Russe Anton schaute mich böse an. Als das ukrainische Lied lief, sagte dann Anton „Schalte diese verdammte Kotze aus!“. Nach einigen Liedern frage ich Anton, worüber im russischen Lied gesungen wurde. Er versucht es nachzusingen, aber was herauskam hörte sich irgendwie wie eine Mischung aus „Jingle Bells“ und „Kalinka“ an.

Was mich auch überrascht hat, war das Benehmen meiner lieben M. Vor dem Wettbewerb schaute sie sich einige Videobotschaften der bulgarischen Vertreterin Poli Genova an. Dort forderte die recht emotional die ganze bulgarische Diaspora auf, für sie zu stimmen. Also je mehr Leute Bulgarien verlassen, desto mehr Stimmen hat unsere Vertreterin bei der Eurovision. Für das bulgarische Lied anzurufen wurde eine patriotische Pflicht.

M. betrachtete das mit Ironie, sie wusste, dass die größten Probleme Bulgariens die Korruption und die Armut sind, und nicht der ESC. Wir sprachen auch darüber, dass, wenn man sich in Bulgarien genausoviel Mühe mit der Steuerpolitik geben würde wie um den ESC-Beitrag zu promoten, die Probleme des Landes wesentlich kleiner wären.

Doch als das Voting begann, verschwand M. kurz aus dem Zimmer, um für das bulgarische Lied anzurufen. Anton tat das gleiche. Sie kamen beide mit roten Gesichtern zurück. Sie hatten ihre patriotische Pflicht erfüllt. Jetzt konnten sie weiter Europäer sein.

Übrigens erreichte Bulgarien den vierten Platz. Poli Genova wurde wie eine Heldin in Sofia empfangen. Ich habe keine Ahnung mehr wie ihr Lied ging.