Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Applaus für "Toni Erdmann""

Thomas Abeltshauser

Filmjournalist. Berichtet von Filmfestspielen, unter anderem Cannes oder Venedig.

15. 5. 2016 - 12:25

Applaus für "Toni Erdmann"

Eine solche Reaktion gab es in Cannes schon sehr lange nicht mehr.

Am Samstag hat es dann an der Croisette doch mal kurz geregnet und wir konnten endlich alle unsere Regenschirme ausführen, die wir nach Südfrankreich mitgebracht hatten, weil die Wetterapps für die erste Woche Dauerniederschlag vorhergesagt hatten. Und dann war es zum Glück doch trocken geblieben bisher. Bei den Schlangen, die sich oft schon zwei Stunden vor jedem Screening vor dem Festivalpalais bilden, ist Wasser von oben auch das Letzte, was man braucht. Viele sitzen auch mit ihren Laptops da und nutzen die Zeit, ihre Berichte reinzuhacken. Heute war’s dann eher ein Meer aus Regenschirmen.

Viele bekannte Namen, wenige Regisseurinnen und Newcomer im Rennen um die Goldene Palme. Außerdem: Flachschuh- und Selfieverbot. Heute starten die Filmfestspiele von Cannes. Wir geben einen Überblick.

Auch sonst ist die Stimmung super, was vor allem an einem Film liegt, der alle umgehauen hat. Eine solche Reaktion gab es in Cannes schon sehr lange nicht mehr. In der Pressevorführung von Maren Ades "Toni Erdmann", dem ersten deutschen Film seit acht Jahren im Wettbewerb des Filmfestivals, gab es Szenenapplaus. Nicht einmal, sondern gleich zwei Mal.

Hauptdarstellerin Sandra Hüller hat alle verzaubert. Die 38-jährige spielt die junge Unternehmensberaterin Ines Conradi, die in Bukarest bei einer Firma aufzusteigen versucht und sich dabei gegen allerlei Alphamännchen behaupten muss. Als ihr Vater Winfried (ebenfalls großartig: Wiener Burg-Schauspieler Peter Simonischek) überraschend zu Besuch kommt, ist sie von seinen Scherzen und seiner etwas unbeholfenen Art schnell genervt und hält ihn auf Abstand. Winfried greift bald zu Perücke und schiefen Zähnen und verwandelt sich in Toni Erdmann. Er gibt sich mal als Berater, mal als Botschafter aus und wanzt sich in Ines' Berufsalltag zwischen Team-Meetings und Clubnächten mit den Kollegen. Und der Trick funktioniert, Ines beginnt tatsächlich etwas aufzutauen.

Nackte Frau, blickt skeptisch, hat ihre Arme vor der Brust geschlossen

Festival de Cannes

"Toni Erdmann"

Als die internationale Presse Freitagabend um kurz vor zehn aus dem Kino strömt, sieht man reihenweise verheulte Gesichter und seliges Lächeln. Die Berliner Filmemacherin hat etwas geschafft, was viele für unmöglich hielten: eine deutsche Komödie, die ihren ganz eigenen Stil und schrägen Humor findet und tatsächlich, das zeigte sich durch viele herzhafte Lacher, grenzübergreifend funktioniert.

"Toni Erdmann" ist ein wahnsinnig smarter und zutiefst menschlicher Film, der die Balance zwischen hochkomischen Momenten, genauen Beobachtungen des Sozialverhaltens in einer multinationalen Geschäftswelt und einem Generationenkonflikt hält, der immer wieder zu Tränen rührt. Ades große Kunst ist, dass sie nicht bis ins Letzte erklärt, sondern andeutet. Und in ihrer 162 Minuten langen Geschichte mit immer wieder neuen skurrilen Einfällen überrascht. Sandra Hüller und Peter Simonischek werden schon jetzt als Anwärter auf die Darstellerpreise gehandelt. Falls der Film nicht sogar die Goldene Palme abräumt. Aber noch haben wir ja nicht mal Halbzeit.

Gute Laune machte auch der Franzose Bruno Dumont, sonst eher bekannt für nicht immer leicht zu ertragende Dramen wie "L’humanité" oder "La vie de Jésus", in denen er oft extreme Gewalt und menschliche Abgründe gezeigt hat. Das tut er noch immer, aber nun mit den Mitteln der galligen Groteske. "Ma loute" spielt an der französischen Nordküste in den 1920er Jahren, hier stehen sich die durch Inzucht degenerierte Bourgeoise, beschränkte Dorfpolizisten und eine menschenfressende Fischerfamilie gegenüber. Ein durchgeknallter Slapstick, der der französischen Klassengesellschaft den Zerrspiegel vorhält. Und mittendrin Fabrice Luchini, Valeria Bruni Tedeschi und Juliette Binoche, die an dem Overacting ihre sichtliche Freude haben.

Ein sich küssendes Paar im Vordergrund, im Hintergrund zwei schwarz gekleidete Männer mit Melone

Festival de Cannes

"Ma loute"

Beim Interview auf der Dachterrasse des Silencio Clubs am Tag nach der Vorführung erzählt mir Juliette Binoche, wie sie als Kind immer ihren Vater imitiert hat, der als Pantomime gearbeitet hat, und so gemerkt hat, wie gern sie beim Schauspielen aufdreht. "Erst später habe ich gelernt, mein Innenleben und meine Emotionen zu nutzen, um eine Figur darzustellen. Aber es hat großen Spaß gemacht, hier mal wieder richtig Gas zu geben!"

Leider sind nicht alle Filme ein solches Vergnügen. Der neue von Ken Loach, zum Beispiel. Der 79-jährige Brite macht seit einem halben Jahrhundert gesellschaftskritisches Kino und ist damit Dauergast in Cannes. Angeblich ist der Brite Rekordhalter mit Filmen, die hier im Wettbewerb liefen. Sein neuester, "I, Daniel Blake", erzählt in seinem gewohnten Sozialrealismus von einem Sechzigjährigen, der nach einem Herzanfall mit der Bürokratie kämpft, die ihm die Sozialleistungen verweigert. Wichtiges Thema, klar, aber so plump in Gut und Böse wurden schon lange keine Figuren mehr eingeteilt, nicht mal im Comic-Blockbusterkino.

Alter Mann und junge Frau im Gespräch, im Vordergrund Obst auf einem Tisch

Festival de Cannes

"I, Daniel Blake"

Ebenfalls aus Großbritannien stammt Andrea Arnold, die diesmal aber ihren ersten in den Vereinigten Staaten angesiedelten Film vorstellt, "American Honey", der kurioserweise auf die Minute so lang ist wie der ihrer Kollegin Maren Ade. Ganz im Gegensatz zu "Toni Erdmann" passiert einfach nicht viel in ihrem an stark an "Kids" und "Springbreakers" erinnernden White-Trash-Jugenddrama über eine Gruppe von Outsidern, die mit einem Van durch die USA fahren und den Leuten Magazinabos andrehen. Statt einer Geschichte, die fast drei Stunden tragen soll, setzt Arnold auf Atmosphäre, lauten Rap-Soundtrack, verwackelte Nahaufnahmen und durcheinanderplappernde Laiendarsteller. Für eine Weile ist das ganz interessant, nervt dann aber zunehmend.

8 junge Menschen an einem Bordstein

Festival de Cannes

"American Honey"

In der zweiten Festivalhälfte erwartet uns noch einiges Vielversprechendes. Olivier Assayas Drama "Personal Shopper" mit Kristen Stewart, Pedro Almodóvars Frauendrama "Julieta", der neue Film von Kanadas Wunderkind "Juste la fin du monde" und neue Werke von Jim Jarmusch, Sean Penn, Nicolas Winding Refn. Und dann gibt es da noch diesen Film "100 Years" von Robert Rodriguez mit John Malkovich. Die angeblich einzige Kopie liegt in einem Safe mit Zeitschalter, zu besichtigen in einem der Nobelhotels an der Croisette. Den Film selbst soll niemand zu sehen bekommen bis zu seiner Premiere in 100 Jahren, am 18. November 2115, wenn sich der Safe öffnet. Das ist so gaga, das muss ich mir anschauen.