Erstellt am: 13. 5. 2016 - 15:33 Uhr
Der Totale Urlaub
Nicht nur in Österreich hat man Probleme mit der Vergangenheitsbewältigung. Unsere Kleinfamilie sitzt auf dem Ausflugsschiff. Wir machen gute Fahrt zwischen dem Osteebad Binz und dem sogenannten Königsstuhl, einem markanten Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund, der hoch über die See ragt. Der Wind wirbelt durch die Touristenreihen an Deck, der Kleine hält Ausschau nach Piraten, die sich doch irgendwo an der Küste befinden müssen, um einen Schatz einzubuddeln und der plattdeutsche Akzent aus dem Lautsprecher erzählt von Steinformationen, DDR-Werften und schrecklichen Stürmen. Nur eines erwähnt dieser unser Führer die ganze Fahrt über nicht: das ehemalige Nazi-Seebad, das vor uns an der Küste liegt. Kilometerweit zieht sich die Anlage übers Land und ist mit freiem Auge gut erkennbar.
Dokumentationszentrum Prora
Hitler persönlich hatte den Auftrag zum Bau erteilt. Die Grundsteinlegung erfolgte vor fast genau 80 Jahren. Als Betreiber fungierte die Nazi-Bespaßungsorganisation Kraft durch Freude (KdF) - zuständig für die (kriegsvorbereitende) Rekreation ermatteter "Herrenmenschen". Das Seebad sollte Platz für 20.000 Urlauber schaffen und erstreckte sich mit insgesamt 8 Blöcken über eine Länge von viereinhalb Kilometer. Es war der gigantomanischste aller gigantomanischen Nazibauten und ist bis heute der längste Gebäudekomplex der Welt. Aufgrund seiner Monstrosität nennt man ihn auch "Koloss von Prora", nach dem Standort am Rande von Binz.
Christian Lehner
Am Tag nach der Rundfahrt fuhren wir hin, um uns diesen Klotz, der übrigens von einem Architekten names Klotz (!) errichtet wurde, anzusehen. Das "Bad der 20.000", wie der Propagandasubtitel lautete, wurde dann auch fast fertiggestellt. Der Zweite Weltkrieg verhinderte jedoch die geplante Nutzung als Feriendomizil. Fortan diente die Anlage als militärische Ausbildungsstätte und Lazarett. Warum ein Großteil dieser steinernen Riesenschlange noch heute 150 Meter entfernt vom Meer in der Sonne fläzt, hat mit der weiteren Nutzungsgeschichte zu tun.
Nach Kriegsende wurde die Anlage durch Sprengungen der Sowjetarmee schwer beschädigt, aber nicht völlig zerstört. Die DDR baute die Bettenhallen wieder auf und finalisierte die Anlage. Bis zur Wende diente das Bad als Kaserne der Nationalen Volksarmee (NVA). Die umliegenden Strände wurden zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Berüchtigt war die Stationierung sogenannter Bausoldaten. So bezeichnete man in der DDR jene jungen Männer, die den Dienst an der Waffe verweigerten und so zum Arbeitsdienst verdonnert wurden.
Christian Lehner
Die Lage des Seebades könnte schöner nicht sein. Die Bucht, das sogenannte "Prorer Wiek", zähmt die See. Ein langer feinsandiger Strand liegt wie ein Teppich vor dem Meer. Zwischen dem Gebäudekomplex und dem Wasser ist über die Jahre ein kleines Fichtenwäldchen gewachsen. Wäre nicht dieses Ungetüm von einem Steinhaufen, man würde sich wie im Paradies fühlen. Der Stararchitekt Daniel Libeskind bezeichnet das "Monster am Strand" als Degradierung des menschlischen Wesens, das hier endgültig zu einer Nummer, einem Objekt und reinem Material werde. Prora sei das Böse schlechthin. Hunderte deckungsgleiche Fenster sind in die schmucklose Fassade eingearbeitet. Es gibt kein Detail, keinen Hinweis auf den einzelnen Menschen.
Heute ist die Anlage teils Baudenkmal, teils Gedenkstätte und Museum samt Cafés und Imbissbuden, teils Baustelle für Luxuswohnungen und eine bereits fertiggestellte und genutzte Jugendherberge. Es ist ein absurder Anblick, wenn sich zwischen all dem Bauschutt die ersten Sonnenanbeter der Saison auf den Balkonen rekeln. Unterm Hitler hätt‘s des übrigens nicht gegeben. Alle Tagesabläufe waren durchgeplant und sollten in der Masse ausgeführt werden. Individuelle Bräune war bei den Nazis verpönt.