Erstellt am: 11. 5. 2016 - 15:32 Uhr
Working Class Hero
Mit Akzent
Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov und sein satirischer Blick auf das Zeitgeschehen - jeden Mittwoch in FM4 Connected und als Podcast.
"Die Leiden des jungen Todor"
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"Europa muss vereint sein gegen die gierigen Konzerne, die die das Blut der Arbeiterklasse aussaugen! Wir müssen zusammenhalten gegen die korrupte Maschinerie in Brüssel, die die Armen gegeneinander hetzt, während Flüchtlinge vor den Stacheldrahtzäunen ausharren!" Der Saal explodiert in Applaus. Der wichtigste Gast dieser Konferenz über die Zukunft Europas und die Flüchtlingskrise ist der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, der nicht wie ein Politiker, sondern wie ein Popstar von den linken intellektuellen Österreichern empfangen wird. Alle wollen ein Foto mit ihm, sein Autogramm, ihn einfach berühren.
Eigentlich bin ich der einzige Vertreter der Arbeiterklasse bei dieser Konferenz. Ich schleppe schwere Bierkisten herum, denn all diejenigen, die da sind, um sich die feurigen Reden des ehemaligen griechischen Finanzministers anzuhören, können nicht durstig bleiben.
Ich habe schon immer gewusst, dass Bier sehr gut mit politischen Reden zusammenpasst. Ohne Bier bleiben politische Reden irgendwie trocken. Es ist ganz anders, wenn man Bier trinkt, Würstel isst und mit dem Leben unzufrieden ist. Eigentlich: Je mehr Bier man trinkt, desto unzufriedener wird man mit der politischen Lage.
Ich denke kurz darüber nach, aber ich muss die Bierkisten schneller schleppen. Der Enthusiasmus der Redner hat sich auf das Publikum übertragen. Ich schaue mir die Hände von einigen der Besucher auf dieser Konferenz an. Das sind gut gepflegte Hände mit schöner Maniküre. Hände, die nie mit harter physischer Arbeit beschäftigt waren. Die nie Erdäpfel aus der Erde ausgegraben haben, nie Bretter zugenagelt haben, nie eine Drehbank bedient haben, nie schwere Kisten in einem Supermarkt geschleppt haben. Sanfte Hände. Hände die euphorisch über die Befreiung der Arbeiterklasse klatschen.
Ich denke über die Bilder von den Kongressen der kommunistischen Partei in Bulgarien nach, wo riesige Menschenmengen den Rednern applaudieren. Die Redner sprechen einfach, klar und spannend: Sie reden über den unausweichlichen Niedergang der Kapitalismus und über das Wohl der Arbeiterklasse, die die Avantgarde der progressiven Gesellschaft bildet. In den Sälen mit den klatschenden Leuten befindet sich kein einziger Arbeiter oder Bauer.
Ich muss die Bierkisten weiterschleppen. Ich renne los, denn ich will nicht meinen Job verlieren. Ich brauche das Geld. Ich muss meine Miete zahlen und meine liebe M will einen neuen Kasten. Ich bringe das Bier zu den Menschen. Niemand auf dieser Konferenz sieht mich. Ich existiere nicht. Die Arbeiterklasse ist ein abstrakter Begriff, der irgendwo im imaginären politischen und ökomischen Raum exisitiert. Ich bin ein lebender, gesunder, echter Arbeiter. Und ich existiere nicht. Ich glaube, dass niemand von den Leuten auf der Konferenz ein Existenzproblem hat. Jeder kann seine Miete zahlen und sich ein gutes Auto leisten. Und jeder will sich für die Arbeiterklasse einsetzen.
Es ist besser wenn ich die Bierkisten weiterschleppe und nicht viel darüber nachdenke. Sonst könnten die mich vielleicht befreien.