Erstellt am: 9. 5. 2016 - 18:41 Uhr
Bombe mich, bombe dich.
Eigentlich wollte ich diesen Artikel mit "Die Erfindung des elektronischen Protestsongs" überschreiben, wenn diese Zuschreibung nicht so wahnsinnig anmaßend und ignorant gegenüber all den davor gesungenen, getoasteten und gerappten Protesten mit elektronisch generierter Begleitmusik wäre - von Public Enemy, über M.I.A. bis hin zu den etwas verklausulierteren Ansätzen von etwa Massive Attack oder ganzer Labelphilosophien wie der von Underground Resistance, um nur einige zu nennen.
Alice O'Malley/Rough Trade Records
Live
Am Colours of Ostrava (14.-17. Juli). Mehr Infos auf colours.cz
Doch "Hopelessness", das erste Album von Antony Hegarty als Anohni, ist von einer Direktheit beseelt, die man im Vergleich zu anderen aktuellen Alben als beinahe radikal bezeichnen muss. Ja, man findet selbst in der langen und glorreichen Geschichte des Protestsongs selten ein Werk, das die Dinge so klar und überzeugt beim Namen nennt.
So trägt ein zentrales Stück des Albums den Titel "Obama". Der Song will sich so gar nicht in den Reigen der milden Bilanzen einreihen, die nun allerortens zur auslaufenden Präsidentschaft des einstigen Hoffungsträgers im Weißen Haus angestimmt werden. Die Lyrics lesen sich eher wie die Anklageschrift eines enttäuschten Fan-Tribunals:
When you were elected
The world cried for joy
We thought we had empowered
The truth telling envoy
Now the news is you are spying
Executing without trial
Betraying virtues
Scarring closed the sky
FM4 Artist Of The Week
Empfehlungen der FM4 Musikredaktion
Die letzten Zeilen beziehen sich auf den Drohnenkrieg der USA - ein wiederkehrendes Thema auf "Hopelessness". Der zweite Vorbote zum Album war "Drone Bomb Me", ein Song aus der Perspektive eines afghanischen Mädchens, das seine Familie bei einem Drohnenangriff verloren hat und das nun regelrecht um den Tod bettelt. Naomi Campbell lieh dem modernen Klagelied ein öffentlichwirksames Gesicht - stellvertretend für das Schöne im Leben, das mit einem Druck auf den Auslöser unter den Augen einer weitestgehend teilnahmslosen Weltöffentlichkeit ausgelöscht werden kann.
In "Crisis" wirbt Anohni gar für Empathie gegenüber den Terroristen des IS oder sucht zumindest die gemeinsame menschliche Basis, um dessen Greueltaten zu ergründen:
If I tortured you brother
In Guantanamo
I'm sorry
Now you're
cutting heads off
innocent people
on TV
Wie kam es zu dieser radikalen Neuausrichtung und Politisierung einer Künstlerpersönlichkeit, die sich bis dahin hauptsächlich mit dem Gefangensein einer Frau im Körper eines Mannes beschäftigte? In Interviews erklärt Anohni, dass der Prozess der leidvollen Selbstfindung wenn schon nicht abgeschlossen, so zumindest gereift sei. Das ist auch der Grund für die Namensänderung und die Bitte an die Fans und Medien, in Zukunft "sie" zu sagen und nicht mehr "er".
So wanderte Anohnis Blick zunehmend von Innen nach Außen. Und da draußen liegt einiges im Argen. Das manifestiert sich auch im zweiten großen Thema der Platte. Stücke wie "4 Degrees" und "Why did you seperate me from the Earth" handeln vom Klimawandel und dem Raubbau der Menscheit an Flora und Fauna. Ersteres wurde als erste Single pünktlich zur Weltklimakonferenz in Paris im vergangenen November veröffentlicht.
Weitere Themen von "Hopelessness" sind die Gefahren des Überwachungswahns, Gewalt an Frauen und die staatliche Verfolgung von Whistleblowers. Wir haben es also mit einer Themenpalette zu tun, die direkt aus den Abendnachrichten übernommen sein könnte.
Nun könnte man einwenden, dass dieser Bad-News-Universalismus der Überkompensation einer Zuspätdraufgekommenen geschuldet ist und dass derlei weitläufige Weltsorgen besser im lokalen Poetry-Slam-Abend aufgehoben wären. Doch die Hechtrolle in die Gräuel unserer Zeit erweist sich bei Anohni als Glücksfall. Wo anderswo bis zur Genrefloskel ausgedünnt oder abstrahiert wird, wählt Anohni die direkteste und subjektivste Sichtweise, die uns zu Verfügung steht. Sie spricht als "ich", wenn sie sich wünscht, vom Berg gebombt zu werden, sie schlüpft in die Rolle des grimmigen Bioverbrechers, wenn sie davon fantasiert, die Säugetiere brennen zu sehen. Ganz anderes als etwa der typische Nachrichtensprech erzeugen diese Perspektiven ein beklemmendes Naheverhältnis zu den Themen. Sie spricht in diesem Zusammenhang auch von "Truth", die weder links noch rechts sei, sondern sich sichtbar vor unser aller Augen ausbreitet.
Rough Trade
So abgeschottet, wie sie in Interviews tut, war Anohni als reflektierende Transgenderkünstlerin also gar nicht. Sie hat erkannt, dass "alles mit allem" in Zusammenhang steht, dass Sexismus, Homophobie, Umweltzerstörung, Terror und Krieg ähnliche Mechanismen und Ursachen haben, dass der so oft verlachte Wunsch nach mehr Fahrradwegen genau so gerechtfertigt ist, wie jener nach geopolitischen Lösungen. Und die werden auf "Hopelessness" selbstverständlich nicht präsentiert. Anohni setzt sich als Künstlerin in Bezug zu dieser Welt, rechnet sich selbst in dieses System ein und nutzt die Aufmerksamkeit, die sie über Publikationen wie diese hier bekommen kann. Und sie tut das mit einer Intensität, die es unmöglich macht, "Hopelessness" bloß nebenbei zu konsumieren. Es ist eine der Stärken des Albums, dass es sich mit den musikalischen Mitteln der Flüchtigkeitsära gegen deren Hörgewohnheiten stemmt.
Der neue Sound
Der Kammerpop der Antony-and-the-Johnsons-Tage ist vorbei. Für "Hopelessness" ist Anohni zurück in den Club gegangen, den sie noch als Drag Queen aus den frühen Tagen im East Village von New York und aus ihrem Gastspiel bei dem Dance-Projekt "Hercules and Love Affair" kennt und kann.
Doch dieses Mal steht sie nicht swingend unter der Discokugel, sondern am dunklen Nebenfloor. Die Elektronik-Produzenten Hudson Mowhake und Oneothrix Point Never mit dem H-Zertifikat erster Güte haben Anohnis Klageliedern eine zeitgemäße Form verpasst. Subbässe grollen, zerhackte Beats schneiden, Ravehörner tröten und gelegentlich wird in die Chillout-Zone geladen, damit sich das Gesagte noch stärker vom Hintergrund abhebt.
Die Idee des Trojanischen Pferdes sei ihr bei der musikalischen Umsetzung vorgeschwebt, sagt Anohni in Interviews. Wenn Underground und Mainstream verschwunden sind und sich alle Welt auf Pop à la Beyoncé einigen kann, so die These, könne man diese Strategie nutzen, um ins Herz der Wahrnehmung vorzustoßen. Diese Konzepte sind nicht neu im Pop. Subversion durch Affirmation war genau in dieser ungestümen Wortregelung in den Achzigern Konzept für einige Post Punk- und New Wave-Acts, die aber schließlich von der Yuppie-Dekade aufgefressen wurden, bis am Ende nur noch Schulterpolster und Fönfrisuren übrigblieben.
Aber zu "Hopelessness" lässt es sich eh schlecht twerken und das spricht eher für die Songs dieses außergewöhnlichen Albums einer ganz und gar außergewöhnlichen Künstlerin. Diese Songs würden nämlich rein über die Stimme funktionieren. Das ist und bleibt die Größe der Anohni. Und jetzt geht raus und rettet die Welt! In dem Wort Hopelessness steckt immerhin immer noch das Wort Hoffnung.