Erstellt am: 4. 5. 2016 - 17:41 Uhr
Großes Kino, kleine (Handy-)kamera
Kinostart
"Tangerine" war DER Hit am Sundance-Festival 2015. In Österreich hatte er im vergangenen Jahr dennoch keinen Kinostart. Das Gartenbaukino Wien bringt ihn jetzt von 4.-12. Mai auf die große Leinwand.
Hollywood, Kalifornien. Nach vier Wochen Knast ist Sin-Dee Rella (Kitana Kiki Rodriguez) zurück zu Hause. Erster Stop: der kleine Laden "Donut Time", wo sie sich von ihrer besten Freundin Alexandra (Mya Taylor) die letzten Neuigkeiten aus der Nachbarschaft holt. Sin-Dee und Alexandra sind zwei Transgender-Sexarbeiterinnen, im Block kennt man sie. Schnell wird klar, dass Sin-Dees Freund, Hauptberuf Zuhälter, während ihrer Abwesenheit untreu gewesen ist. Ein furioser Lauf quer durch Tinseltown, angetrieben von überschäumender Eifersucht, ist damit programmiert.
Magnolia Pictures
"I promise, no drama!"
Was Drehbuchautor und Regisseur Sean Baker hier gelingt, muss man schlicht außergewöhnlich nennen. Die Ausgangssituation für den Film ist schnell gelegt. Von da an werden wir in diese kleine Welt hineingezogen, die mit "Donut Time" ihre Homebase hat und sich über in satte Orangetöne getränkten Straßen Hollywoods erstreckt. Die Handlung spannt sich dabei lediglich über die Dauer eines Tages (dass es sich ausgerechnet um Weihnachten handelt, ist zunächst nur über die Songs im Radio zu erkennen, die im harten Kontrast zur restlichen Story stehen).
Die meiste Zeit verfolgen wir die in Rage geratene Sin-Dee, die auf der Suche nach der Wahrheit einer Vielzahl an Nebenfiguren begegnet, untermalt von einem treibenden Trap-lastigen Soundtrack. Alexandra begleitet sie unter der Bedingung, dass sie kein riesiges Drama produziert. Ein Versprechen, das Sin-Dee nicht lange halten kann. Die wirklich nahe gehenden Geschichten spielen sich allerdings ganz beiläufig an Nebenschauplätzen ab. Etwa im Taxi des Armeniers Razmik (Karren Karagulian), der sich mit skurrilen Fahrgästen abplagen muss und zuhause bei der Familie kein Glück findet. Oder anhand von Alexandra, die überall selbstgemachte Flyer für ihren bevorstehenden Auftritt verteilt, damit sie am Weihnachtsabend nicht vor leeren Tischen singen muss.
Alles in allem beschränkt sich Bakers "Tangerine" aber auf minimale Handlungsstränge, die von der Optik und der Dynamik der Dialoge leben, und dennoch so viel über diesen Ort erzählt, über seine etablierte Underground-Wirtschaft, über Sexarbeit, Drogenmissbrauch, Homo- und Transphobie auf den Straßen. In keiner Sekunde mit Pathos und zu viel Ernst, sondern quasi im Vorübergehen. Und dann kommt noch dieses eine technische Detail hinzu, nämlich, dass "Tangerine" ausschließlich mittels iPhone 5s-Kameras gedreht wurde.
Magnolia Pictures
Große Filme mit Handys drehen - Zukunftsmusik?
Zunächst mag es absurd klingen, dass sich ein gut situierter Filmemacher visuell auf die Optik einer Handykamera beschränkt. Denn üblicherweise wird von reduziertem technischen Equipment auf ein fehlendes Budget geschlossen. Einen Film dann gar auf einem iPhone zu drehen, stößt wohl mehrheitlich auf Unverständnis.
Aber eins muss man ihnen lassen: Handykameras punkten durch ihre Unmittelbarkeit und bieten die Möglichkeit, spontan und auch in heiklen Momenten mitzufilmen. Daher dominieren Handyvideos auch das Social Web. In den letzten Jahren haben sich FilmemacherInnen diese Unmittelbarkeit zu Nutzen gemacht, um Projekte zu realisieren, die anders schlicht nicht umsetzbar gewesen wären. Etwa "Silvered Water - Syria Self Portrait" (2014), der aus Found Footage-Material unzähliger online gestellter Handyfilme aus Syrien besteht und damit einen einzigartigen Blick in das Krisengebiet gewährt. Oder "From Gulf to Gulf to Gulf" (2013), der Seeleute in Westindien bei der alltäglichen Arbeit auf hoher See über die Dauer von vier Jahren begleitet, wobei sich die Protagonisten dabei selbst filmten.
FM4 Homebase
"Tangerine" in der FM4 Homebase (19-22h) und im Anschluss im 7-Tage-Player.
"Tangerine" hat es nun gewagt, diese niederschwelligste wie aber auch gewöhnungsbedürftige Kamera der Gegenwart ins Spielfilmfach zu holen. Und beweist damit, dass man auch visuell viel mehr aus dem Handy herausholen kann, als man meinen möchte. Die neuesten, speziell für iPhones entwickelten Objektivaufsätze waren wesentlich für den nötigen Widescreen-Look ("anamorphic adapters"). Aber auch der raffinierte Einsatz des natürlichen Lichts - gedreht wurde großteils kurz vor und während der Dämmerung - war essentiell für die Optik. So erleuchten die Straßen Hollywoods in "Tangerine" ganz von selbst in majestätisch warmen Tönen und lassen rasch vergessen, dass wir es hier mit einer Handyaufnahme zu tun haben.
Magnolia Pictures
"Tangerine" ist ein kurzweiliges Filmabenteuer. Der Film glänzt dadurch, dass er nur spärlich Handlung produziert und trotzdem ein dichtes atmosphärisches Porträt erzeugt, das zwischen viel Hysterie auch Platz für zutiefst menschliche Momente lässt. Die Aufnahmetechnik ist ein spannendes Detail am Rande, das die Zukunft des Filmemachens wohl nicht ganz unbeeinflusst lassen wird. Für die Dramaturgie des Films ist sie aber nebensächlich. Wir werden hier nicht mit permanenter Wackelkamera-Optik belästigt - denn Handy bedeutet schon lange nicht mehr nur aus der Hand zu filmen. Im Gegenteil: sobald man Sin-Dee auf Schritt und Tritt verfolgt, hat man bald vergessen, womit hier gedreht wurde. Das ist die eigentliche Kunst von "Tangerine".