Erstellt am: 3. 5. 2016 - 18:44 Uhr
Leicester Bangs!
Ich glaube, es ist meine Korrespondentenpflicht. Also dann:
Der Premiership-Titel für den 5.000-1 Außenseiter Leicester FC, ehrlich, ich bin ja auch irgendwo begeistert darüber, tief im Innersten. Diese größte Underdog-Geschichte seit dem Lauf von Nottingham Forest aus der zweiten Liga an die europäische Spitze Ende der Siebziger, sie erweicht Herzen aus Stein.
Gleich vorweg muss ich gestehen: Ich bin nicht wirklich qualifiziert, hier Sportliches zu bewerten. Schon, es gab einmal eine Zeit, da hab ich auf diesen grauen Seiten auch über britischen Fußball geschrieben, das eine oder andere.
Doch dann kam jener Abend vor ein paar Jahren, ich war eingeladen, bei einem Cup-Match in einer Logenkabine im Stadion eines großen Premier League Clubs einem zu Ehren eines Fußballreporter-Freundes geschmissenen Dinner beizuwohnen.
Es gab dort ein Buffet wie zu den dekadentesten Zeiten der Musikindustrie mit viel Essen und Champagner, den man aber nicht draußen vor den Glastüren vor Augen des trockengelegten Publikums konsumieren durfte.
Ich kam ins Gespräch mit ein paar der anderen Schreibern und dem Vertreter der Premier League im glänzend grauen Anzug mit Gel in den Haaren. Am Ende des Abends war ich zwar ziemlich besoffen aber andererseits auch ernüchtert genug, um zu wissen, dass ich eigentlich nichts mehr wissen wollte, von der in obszönen Summen schmutzigen Geldes badenden Welt des englischen Fußballs.
Seither war ich nie wieder in einem Oberliga-Stadion, hab das, was dort passiert, kaum mehr mitverfolgt, und mein Leben wurde dadurch nicht ärmer.
Aber selbst ich sehe ein: Das, was mir an jenem Abend endlich in voller Konsequenz eingeschossen war, wurde vom Triumph der Foxes aus Leicester nun widerlegt.
In den Worten von Premier League-Chef Richard Scudamore: "Sie haben uns alle wie Deppen aussehen lassen, und das ist das fantastischste Gefühl."
Übersetzt: So korrupt, wie der Chef oder ich gedacht hatten, kann die Premiership auch nicht sein, wenn es möglich ist, dass so ein Team gewinnt. Ein Team, das einem im Vergleich zu seiner unmittelbaren Premiership-Konkurrenz bettelarmen Thailändischen Tycoon gehört, der letztes Jahr nur popelige 27 oder 28 Millionen Euro für seine Spieler locker gemacht hat, während ein Club wie Manchester City das Dreizehnfache ablegte.
AFP PHOTO / OLI SCARFF
Das ist eine allen ökonomischen Machtverhältnissen zuwider laufende Sensation, und es erklärt auch die Freudensprünge des siebzehnjährigen Sohnes gestern Abend, der ja eigentlich zu Arsenal halten sollte.
Sicher, die Gewinner lieben immer alle, aber in diesem Fall aus den richtigen Gründen.
Und es gibt natürlich auch noch den patriotischen Aspekt in Gestalt von Christian Fuchs, der gerade mit den Buben im Pelz auf Tour geht und demnächst als Black Palms Orchestra sein erstes Soloalbum veröffentlicht (Das stimmt, ich hab's gegooglet).
Man kann ihn überall im Internet in einem Video-Clip jubeln sehen, gestern, als mit dem Schlusspfiff zwischen Chelsea und Tottenham klar wurde, dass Leicester Meister ist. Ich weiß nicht, ob das bei ihm zuhause war, wie erst die BBC behauptete, oder doch bei Jamie Vardy, dem noch größeren Star des Teams.
Die in die Decke eingelassenen Halogen-Spots auf dem Video aus Vardys Wohnung sahen jedenfalls ident aus. Gebrüllt haben sie da wie dort, die bärtig bürstigen Männer (Frauen nicht zu sehen), und wer kann's ihnen verdenken.
Schließlich steht Leicester nun eine lukrative europäische Zukunft bevor, was auch bedeutet, dass nie wieder Tourist_innen in London Einheimische nach dem Weg zum "Laitschester" Square befragen werden (im Zweifel: Leicester wie Lester Bangs).
Umgekehrt sprechen wiederum die siebzehnjährigen Klassenkameraden aus Kent den Nachnamen des Herrn Fuchs mittlerweile "richtig", also mit extra langem "u" und ganz ohne juveniles Gekicher aus. Das ist echter Ruhm. Und über Claudio Ranieri, den Trainer, macht sich auch niemand mehr lustig, das muss einem auch gefallen.
(Wir erinnern uns, Ranieri trainierte einst Chelsea, ohne Englisch zu sprechen. Und dann flog auf, dass der Engländer, der als Übersetzer für die nicht-italienischen Spieler arbeitete, kein Wort italienisch sprach, sondern ihnen einfach erzählte, was ihm selbst vernünftig vorkam.)
Sympathischerweise sagte Ranieri heute, dass es gut sei, schon "ein sehr alter Mann" zu sein, wenn er nun sowas erlebt. Früher hätte er nämlich nicht wirklich was mit diesem Triumph anfangen können.
Er dankte auch der örtlichen Community, und in den Bildern aus Leicester sah man diese selbstverständlich feiern. Viele davon waren das, was man in Großbritannien "Asian" nennt, also Menschen mit Wurzeln in den ehemaligen südasiatischen Kolonien, Indien, Pakistan, Bangladesh.
Das ist nicht so selbstverständlich, wie man annehmen könnte, denn selbst in der sich sonst gern antirassistisch gebenden englischen Fußballwelt haben Asians nach wie vor wenig zu suchen. Sie spielen lieber Cricket, heißt es immer. Aber da schwingt wohl noch anderes mit.
In Leicester jedenfalls wohnen so viele Asians (37 Prozent), dass der Fußball an ihnen nicht vorbeikommt, und umgekehrt. Kann auch keine schlechte Sache sein.
AFP PHOTO / LEON NEAL
AFP PHOTO / LEON NEAL
Ich war in meinem Leben ein einziges Mal in Leicester, irgendwann Anfang, Mitte der Neunziger besuchte ich dort Tjinder Singh von Cornershop. Er kam eigentlich aus Wolverhampton, war aber nach dem Studium in Preston nach Leicester gezogen, um dort mit seinem Bruder Avtar und Ben Ayres eine Band zu gründen.
"Brimful of Asha" war zu jener Zeit noch nicht geschrieben, und die nationale Musikpresse machte sich über das angebliche Dilettantentum von Cornershop lustig, als wäre der Punk nie passiert (war er zwar, jedoch ebenfalls ohne Einbeziehung der Asians). Aber Tjinder war in der Szene von Leicester eindeutig respektiert, das merkte man der Art an, wie die anderen Leute in lokalen Bands und Clubs mit ihm umgingen.
Überhaupt schien Leicester eine freundliche Stadt zu sein. Eine jener üblicherweise von London und den Medien ignorierten, alles andere als vermögenden englischen Städte ohne jede Arroganz.
Und jetzt macht uns der Sport also wieder vor, dass es in der Welt sowas wie ein planes Spielfeld gäbe, wo auch diese Kleinen gewinnen können, und wir dürfen uns mit diesem schönen Gedanken betäuben.
Falls das jetzt wieder allzu erzwungen miesepetrig klingen sollte (ist es auch, geb ich zu), sei zur Entspannung noch erwähnt, dass Gary Lineker, der heutige Moderator der Sendung Match of the Day, vor allem aber berühmteste Fußballer, den Leicester bisher hervorgebracht hat, seine erste Sendung der nächsten Saison in Unterhosen moderieren wird.
Das war sein Wetteinsatz für den Fall, dass Leicester die Meisterschaft gewinnt. Inzwischen wetten sie schon auf die Farbe seiner Unterhosen. Die Engländer, die.