Erstellt am: 3. 5. 2016 - 16:51 Uhr
Virtual Reality Check: Rift vs. Vive
Der Legende nach kam es im Jahr 1895 zu einer Panik im Publikum, als der Film "Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof von La Ciotat" der Brüder Lumière vorgeführt wurde. Menschen sprangen von ihren Sitzen und wollten flüchten, so sagt man. Viele bezweifeln die Story, andere belächeln die Naivität der Zuschauer. Ich weiß nicht, ob die Geschichte tatsächlich so stattgefunden hat, denke aber, dass eine erschrockene Reaktion völlig normal für eine Person ist, die noch nie zuvor einen Film gesehen hat. Ich habe in den letzten drei Jahren über hundert Menschen ihre ersten VR-Erlebnisse beschert - einige von ihnen haben geschrien.
Im April habe ich über das Cyberpunk-Werk Technolust geschrieben, es sei eines der beeindruckendsten Beispiele für aktuelle VR-Technologie. Einerseits, weil es gekonnt die Elemente aus Genreklassikern wie Neuromancer und Bladerunner verbindet, andererseits weil es beim Spielen mit dem Oculus Rift in den Größenverhältnissen der physischen Welt erscheint und deshalb höchst immersiv wirkt. In der Cyberpunk-Literatur wurde schon seit den frühen achtziger Jahren über die Möglichkeit eines weltweiten Cyberspace geschrieben. Diese Ideen nun tatsächlich in virtueller Realität zu erleben, ist einigermaßen faszinierend.
Christoph Weiss
Leser dieser Website wissen vielleicht auch, dass ich seit vielen Jahren über die Schönheit von virtuellen Welten wie Second Life schreibe - zuletzt etwa über die dort veranstaltete SL SciFi Convention. Second Life habe ich ab dem Jahr 2013 auch mit Virtual-Reality-Headsets erlebt, etwa mit dem ersten Entwicklerkit des Oculus Rift, über das ich im selben Jahr geschrieben habe. Die im heurigen Jahr erreichte Marktreife der tatsächlich für Konsumenten gedachten Versionen sowohl des Oculus Rift, als auch seines Konkurrenzprodukts HTC Vive, stellt für mich einen bedeutenden Meilenstein dar.
Virtual Reality ist nicht nur eine faszinierende Technologie, sondern ein neues Medium, dessen am stärksten unterschätzter Aspekt derzeit vielleicht ist, dass jedes andere Medium (Games, Fernsehen, Film, das Internet) darin dargestellt werden kann - vernetzt, in sozialen Räumen mit Usern aus aller Welt. Wer einmal die Applikation Big Screen ausprobiert hat, in der man in einem virtuellen Büro sitzend auf die Computer von Usern sehen kann, die tausende Kilometer entfernt sind, oder mit einer Gruppe von Menschen in einer virtuellen Welt gemeinsam 3D-Designs konstruiert hat, weiß was ich meine.
BigScreen, Inc
Rift oder Vive
Die Entscheidung, welches der beiden konkurrierenden Systeme man bevorzugt, ist so schwierig, weil beide Headsets so bahnbrechend wie kostspielig sind. Um eine Entscheidung zu treffen, sind weniger die technischen Details wie Pixeldichte, Framerate und Fresnel-Linsen wichtig, sondern eher Aspekte wie Softwareangebot, Verwendung mit Sehhilfen und allgemeiner Tragekomfort.
Über letzteren hat Oculus viel nachgedacht - das merkt man beim Aufsetzen des neuen Rift sofort. Das Headset hat ein weiches Plastikgestell und wird beinahe wie eine Kappe auf den Kopf gesetzt. Keine Gummibänder ziehen an den Haaren, kein Druck erfolgt gegen das Gesicht - und weil auch die Kopfhörer bereits eingebaut sind gibt es weniger Gewurschtel: Nur ein einziges Kabel geht vom Headset zum PC.
Christoph Weiss
Das HTC Vive fühlt sich nicht ungemütlich, aber doch noch ein bisschen wie die früheren Entwicklerversionen von VR-Brillen an: Es ist schwerer als das Rift, man muss es enger aufs Gesicht schnallen, damit es hält. Vorteil für Brillenträger: Die Lesehilfe hat im größeren, schwereren Vive ein bisschen mehr Platz als im Rift. Interessantes Zusatzfeature des Vive: Eine eingebaute Kamera, dank der man - ohne das Headset abzunehmen - eine Ansicht des physischen Raums ins Bild schalten kann.
Aus dem HTC Vive kommen drei dicke Kabel heraus, die man beim Spielen hinterherzieht. Außerdem muss man auch noch einen Kopfhörer anschließen. Der Kabelsalat stört vor allem, weil man sich beim HTC Vive ja auch viel bewegt: Letzteres ist aber auch ein Vorteil des Vive.
Im Lieferumfang des Vive sind zwei Raumsensoren inkludiert, die in zwei gegenüberliegenden Zimmerecken installiert werden. Shooter wie der "Space Pirate Trainer" werden unter Einsatz des ganzen Körpers gespielt. Valves Gratisdemo "The Lab" versetzt den Spieler in Minigames, die teils mit dem Charme und Humor aus der "Portal"-Serie überzeugen. Manche dieser sogenannten "Room Scale"-Spiele setzen voraus, dass man eine Fläche von mindestens 2x2 Metern im Zimmer zur Verfügung hat - sinnvoll sind 5x4 Meter. Wer einen Hobbykeller oder ein großes Wohnzimmer hat, kommt damit wahrscheinlich zurecht, im durchschnittlichen Kinderzimmer wird es schon eng. In einigen Spielen kann man statt des Room-Scale- auf einen Standing-Modus umschalten, das ist aber nicht immer eine Option.
Christoph Weiss
Beim Oculus Rift spielt man derzeit eher im Sitzen. Das drückt sich auch in den Launchtiteln aus, die zum Verkaufsbeginn des Headsets vertrieben werden: Das düstere RPG "Chronos", das Jump'n'Run-Game "Lucky's Tale", die großartigen Weltraumsimulationen "EVE Valkyrie" und "Elite Dangerous".
Im Lieferumfang des Rift befinden sich ein Sensor, eine kleine Fernbedienung und ein herkömmlicher Xbox-Controller. Man kann natürlich auch mit Maus und Tastatur, mit einem HOTAS, einem Lenkrad oder auch mit Motion Controllern wie dem (verkabelten) Razer Hydra spielen - letzteres wird seit kurzen sogar von SteamVR unterstützt und ermöglicht es, für Bewegungssteuerung gedachte Vive-Games mit dem Rift zu nutzen. Im Herbst will Oculus die sogenannten "Touch"-Controller veröffentlichen, die nicht nur kabelloses Motion-Tracking der Hände ermöglichen, sondern auch Fingerbewegungen erkennen. Derzeit gibt es sie aber noch nicht.
Beim Vive hingegen sind die Motion Controller bereits im Lieferumfang enthalten. Sie werden im virtuellen Raum manchmal zu Händen, Werkzeugen oder Waffen - die Möglichkeit, sich frei im Raum bewegen zu können und durch natürliche Bewegungen mit Gegenständen zu interagieren erhöht die Immersion sehr stark. Das Konstruktions- und Bastelspiel "Fantastic Contraption" etwa sorgt mit einer Spielmechanik, die zu kreativen Höchstleistungen motiviert, für gute Laune. "Audio Shield" ist ein simples Musikspiel, das aber durch die Kombination aus virtuellem Raum, Körperbewegungen und Einsatz der Hände ein völlig neues Spielgefühl erzeugt. Googles App "Tilt Brush" ermöglicht das Malen riesiger Bilder und 3D-Skulpturen in VR. Zahlreiche kleine Experimente und kurze Spiele von 30 Minuten Dauer machen Appetit auf mehr - vor allem auf AAA-Titel mit Motion-Controller-Unterstützung, die es derzeit noch nicht gibt.
Gekauft werden Vive-Spiele in Steam. Dazu wird eine Zusatz-App namens SteamVR installiert. Sie ist im einwöchigen Probebetrieb täglich etwa zwei- bis dreimal abgestürzt. Spiele für das Oculus Rift kauft man entweder im Oculus-eigenen Store namens Home, oder ebenfalls auf Steam. Oculus Home läuft äußerst stabil und bietet einige Games, die auf SteamVR nicht erhältlich sind - dafür mangelt es dem neuen Store an den für Steam typischen Funktionen wie Chat, Bewertungen oder Videos. Weil man Spiele für das Oculus Rift aber auch auf SteamVR kaufen kann und sogar Titel, die eigentlich für das Vive entwickelt wurden, auf dem Rift funktionieren, ist die Softwareauswahl für das Rift größer. Ein Hack namens "Revive" ermöglicht es seit kurzem auch, manche Rift-Spiele mit dem Vive zu genießen. Für beide Headsets kann man Games auch direkt von den Herstellern beziehen - sowohl Rift als auch Vive sind also nicht die oftmals befürchteten "walled gardens".
CC BY 2.0
Nun wird es doch kurz technisch: Die Pixeldichte und das Sichtfeld der beiden Brillen sind gleich. Beim Oculus Rift hat allerdings der legendäre Spiele-Entwickler John Carmack ("Doom") einen technischen Trick namens "Asynchronous Time Warp" programmiert. ATW sorgt dafür, dass auch unter widrigsten Bedingungen die Bildfrequenz des Rift immer bei 90 Hertz bleibt - das Ergebnis ist beim Rift ein stets sehr flüssiges, smoothes Bild. Dafür haben wiederum die Linsen des Vive ein bisschen weniger störende Lichtreflexionen. Die Bildqualität der beiden Headsets hält sich also in etwa die Waage.
Fazit
Hier die Vor- und Nachteile der beiden Headsets im Überblick:
Oculus Rift
+ Hoher Tragekomfort, geringes Gewicht
+ Größere Spieleauswahl (Home und Steam)
+ Sehr smoothes Bild dank ATW
+ Integrierter Kopfhörer
- Wenig Platz für Brille im Headset
- Noch keine Motion Controller
- Nur ein Raumsensor für Positionstracking
HTC Vive
+ Zwei Raumsensoren für Positionstracking
+ Motion Controller
+ Integrierte Kamera
+ Weniger Lens Flares
- Weniger Games
- Kein Kopfhörer integriert, Kabelsalat
- SteamVR instabil
Beide Virtual-Reality-Headsets haben Vor- und Nachteile und sind großartig - es ist zu hoffen, dass in Zukunft hinsichtlich der Software auf größtmögliche Offenheit und Kompatibilität geachtet wird. Initiativen wie OpenVR (von Valve - nützlich, aber leider nicht Open Source) und OpenSourceVR (von Enthusiasten und tatsächlich offengelegt) werden eine Fragmentierung des Sektors hoffentlich verhindern - die Tatsache, dass sich Vive-Spiele mit den Razer-Hydra-Controllern am Rift spielen lassen, ist etwa der OpenVR-Iniative zu verdanken. Umgekehrt verhindert auch Oculus nicht, dass Rift-exklusive Titel über Revive gespielt werden können. Voraussetzung, um die neue VR-Technologie überhaupt nutzen zu können, ist allerdings ein gut ausgestatteter PC mit Windows-Betriebssystem. OSX und Linux bleiben derzeit außen vor.
OSVR
Wer auf Bequemlichkeit Wert legt und keine Brille trägt, ist mit dem Oculus Rift gut beraten - das Rift kann man ohne Quälerei durch Druckstellen und Wärmeentwicklung auch mehrere Stunden tragen. Wer jetzt schon Raumsensoren und Motion Controller im Spiel will, ist mit dem Vive besser bedient.