Erstellt am: 1. 5. 2016 - 17:15 Uhr
Tribunalisierung der Kapitalismuskritik
Mit 160 Seiten ist der Band Das Kapitalismustribunal - Zur Revolution der ökonomischen Rechte ein kompaktes Grundlagenkompendium zum Projekt.
Worum geht es?
Wissenschaftliche Erkenntnis über die Auswirkungen der Ökonomie und Erfahrungen von Menschen in der Arbeitswelt wurden fortgesetzt ignoriert. [...] Am Ende der neoliberalen Epoche steht ein Tribunal, um aus dem Versagen der Regeln der Vergangenheit für die unmittelbar bevorstehende Zukunft zu lernen.
Das Kapitalismustribunal
Von 4. bis 10.Mai 2016 wird das Wiener brut Theater als Gerichtshof funktionieren. Hunderte Anklagen werden hier verhandelt.
Gegen BASF, Siemens, Monsanto, Nestlé, die Bertlesmann-Stiftung, die EU-Grenzschutzagentur Frontex, Politiker wie Angela Merkel oder Rudolf Hundstorfer wurden im offenen Verfahren ebenso Anklage erhoben, wie gegen "menschliche Dummheit", "die Zuckerindustrie" oder das Kapitalismustribunal selbst.
Veranstaltet wird das 1.Europäische Kapitalismustribunal vom Berliner Zentrum für Karriereverweigerung, Haus Bartleby und dem ExpertInnenrat Club of Rome, bekannt für seine Studien "Die Grenzen des Wachstums".
Die kommenden Tage werden Aufschluss darüber geben, wie mit den Anklagen verfahren wird. Die Angeklagten haben Vorladungen per Post erhalten. Dem Vernehmen nach hat sich eine Angeklagte bereits telefonisch beim brut Theater wütend über ihre Vorladung beschwert.
In der Prozessordnung des Kapitalismustribunals heißt es:
§22 Der Beschuldigte hat das Recht, zu seiner Verteidigung bei Gericht selbst zu sprechen und auf den Beistand des Verteidigers zu bestehen. Zu Beginn der Verhandlung legt sich die Verteidigung fest, auf Schuld oder Unschuld des Beschuldigten zu plädieren.
§23 Beschuldigte, die nicht zur Verhandlung erscheinen, werden durch ihren Verteidiger an seiner statt vertreten.
§24 Beschuldigte, die nicht zur Verhandlung erscheinen und keinen Verteidiger bestellen, sind flüchtig. Ihre Würde bleibt ferner stets zu achten.
brut Wien
Das Buch
Der Sammelband, der in der Thema-Reihe des Passagen-Verlags erschienen ist, umfasst neben der Prozessordnung über 30 Texte, die jeweils auf wenigen Seiten Aspekte des Vorhabens diskutieren.
Erfrischend Rechtsphilosophisches versammelt das Kapitel Überpositives Recht. Unterschiede zwischen dem Kapitalismustribunal und den Nürnberger Prozessen werden u.a. erörtert.
Vom ehemaligen deutschen Justizminister, Gustav Radbruch - einem der einflussreichsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts, der unter den Nationalsozialisten Unterrichtsverbot hatte - ist hier zu lesen:
Es kann Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, dass ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muss.
Auf die Frage "Bin ich nicht Teil des Problems?" antwortet das HerausgeberInnenteam:
Nehmen Sie Abstand von dem Verständnis, das Recht sei in Stein gemeißelt und unveränderbar. Das war nie so. Regeln sind dynamisch und wenn eine Untersuchung ergibt, dass sie nicht mehr im Sinne aller funktionieren, steht es uns allen frei, sie zu verändern.
Nach Radbruch ist Gleichheit der Kern jeder Gerechtigkeit.
Gleichheit?
Konkurrenz- und Profitlogik produzieren extreme Ungleichheit im globalen Maßstab. Sowohl zwischen Menschen, als auch zwischen Räumen.
In ihrem Beitrag Zonenweise rentabel fragmentiert beschreibt das unsichtbare Komitee, ein Theoriekollektiv aus Frankreich, die Dimensionen der Ungleichheit:
Die großen metropolitanen Regionen, die miteinander konkurrieren, um Kapital und Smart People anzulocken; zweitrangige metropolitane Zentren, die sich durch Spezialisierung halten; arme ländliche Gebiete, die sich kümmerlich durchschlagen, indem sie sich in Orte verwandeln, die die „Aufmerksamkeit der Städter auf sich ziehen könnten, die sich nach Natur und Ruhe sehnen“; Landwirtschaftszonen, bevorzugt bio, oder „Biodiversitätsreservate“; und zuletzt die schlichtweg abstiegsbedrohten Zonen, die früher oder später von Checkpoints umzingelt und aus der Ferne via Drohnen, Hubschraubern, Blitzaktionen und massiver Telefonüberwachung kontrolliert werden.
Der ehemaligen Unternehmensberater und Finanzbeamte Matthias Schäfer von der Konrad Adenauer-Stiftung wird dem Team der Verteidigung angehören. Von ihm ist der Text „Was bewahrt werden muss am Kapitalismus“ abgedruckt.
Passagen Verlag
Das Kapitalismustribunal - Zur Revolution der ökonomischen Rechte
ISBN 9783709202203
Preis 18,10 EUR
Beiträge u.a. von Alain Badiou, Hans-Christian Dany, Lili Fuhr, Lukas Franke, Ingrid Gilcher-Holtey, David Graeber, Alon Harel, Kira Kirsch, Louis Klein, Lydia Krüger, Anne-Kathrin Krug, Viktor Kucharski, Ángela Lambea, Volker Lösch, Graeme Maxton, Achille Mbembe, Hans-Peter Müller, Wolfgang Neskovic, Guillaume Paoli, Angela Richter, Saskia Sassen, Matthias Schäfer, Marinka Spieß, Nis-Momme Stockmann, Ilija Trojanow, und Uwe Wesel.
Weiters sind Auseinandersetzungen mit TTIP, der EU, mit der Klimawissenschaft und mit den Gefahren neuer CO2-Tauschhandelsgesetze ("Ökosystemdienstleistungen", sprich die Nichtabholzung von Wäldern, werden gegen Verschmutzungsrechte gehandelt) ebenso zu lesen wie kecke Polemiken zur komplizenhaften kapitalistischen Verstrickung der Mittelschicht und zur Rolle des Theaters.
Kunst sei das Ganze aber nicht, betonen die Veranstalter.
Laut Prozessordnung sollen die Urteile, die in einem zweiten Verfahrensteil im Herbst erwartet werden, unmittelbar gültig, aber nicht vollstreckt werden.
Die Frage der Macht scheint also vorerst ausgespart.
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Ángela Lambea, Andreas Voigt
Von 3. bis 10. Mai, jeweils von 12:00 bis 17:00 Uhr tagt das Gericht. Abends ab 19:00 Uhr finden Diskussionsveranstaltungen unter dem Titel "Die 7.Internationale" statt. Das volle Programm hier.