Erstellt am: 26. 4. 2016 - 17:51 Uhr
Das Lied vom Ende des Kapitalismus
Das individuelle Leben ist eine serialisierte kapitalistische Minikrise, ein Desaster, das Deinen Namen trägt. (Brian Massumi)
Ein kleines Kompendium des Abgesangs auf den Kapitalismus:
- Karl Marx - Das Kapital
- Thomas Piketty - Das Kapital im 21. Jahrhundert
- Ulrike Herrmann - Der Sieg des Kapitals
- Robert Misik - Kaputtalismus
- Yanis Varoufakis - Time for Change: Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre
- Russel Brand - Revolution
- Colin Crouch - Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus
- Paul Mason - Postkapitalismus
- Christian Felber - 50 Vorschläge für eine gerechtere Welt und Die Gemeinwohl-Ökonomie
Frank Schirrmacher fiel es wie Schuppen von den Augen, damals, im vierten Jahr der großen Krise: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat" ist seine nachdenkliche, ja fast verzweifelte Schrift über das Ende der vom Neoliberalismus gekaperten bürgerlichen Politik überschrieben - ein Titel, den sich die Zeitung, die er herausgab, nur in Anführungszeichen abzudrucken traute. Schirrmacher konstatiert darin nicht nur die Demaskierung der falschen Versprechungen des Neoliberalismus, er rehabilitiert auch die in den Jahrzehnten zuvor von der Politik unter tatkräftigem ideologischen Begleitschutz des nahezu gesamten bürgerlichen Feuilletons sowie der Wirtschaftswissenschaften als Irrweg abqualifizierte linke, am Marxismus orientierte Kapitalismuskritik.
Kapitalismus darf wieder kritisiert werden
Schirrmacher war nicht der erste, und er war beileibe nicht der letzte, der damals den Abgesang auf den Kapitalismus anstimmte. Vom zwielichtigen Goldverkäufer, der in Google-Inseraten seit Jahren das "heurige" Euro-Ende verkündet, über aus der Versenkung wieder auftauchende kommunistische Splittergruppen bis hin zum ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten war sich vor fünf Jahren die halbe Welt einig, dass es nicht so weiter gehen konnte.
Was hat dich bloß so ruiniert?
Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter war einer der Lieblingssätze des großen Aussitzers Helmut Kohl, und Wolfgang Schäuble, den er einst zum Minister machte und mit dem er gemeinsam die CDU-Spendenaffäre ausgesessen hat, hat als Chefideologe des Austeritäts-Wahns erfolgreich das Kläffen ignoriert und mit demonstrativer Brutalität bei der Zurechtstutzung Griechenlands ins weiterhin neoliberale Korsett gekontert.
![© Aufbau Verlag Buchcover Misik Kaputtalismus](../../v2static/storyimages/site/fm4/20160417/Misik Kaputtalismus_side.jpg)
Aufbau Verlag
Wo also ist der Kapitalismus am Ende? Die USA haben sich wirtschaftlich erholt und stricken mit einer nach wie vor streng neoliberal ausgerichteten EU-Elite an einem weiteren Abbau von dem, was sie, die Macht-haber, Handelsschranken und die anderen, Schirrmachers Recht-haber, soziale und ökologische Standards nennen. In Venezuela degeneriert das staatliche Almosen-System am niedrigen Ölpreis, während in Argentinien ein korruptionsumwitterter neoliberaler Präsident eine links-Peronistin ablöst und als erste Amtshandlung die demonstrative Unterwerfung unter die Forderungen des Finanzkapitals verkündet. Derweil putscht sich in Brasilien eine korrupte, aber neoliberale Elite gegen eine gewählte linke Präsidentin an die Macht, und die Ölregimes im Nahen und Mittleren Osten sowie die ehemals kommunistischen Staaten Afrikas und Asiens - allen voran Angola, China und Vietnam - zeigen, dass der Kapitalismus in Kombination mit einer Diktatur möglicherweise noch bessere Ergebnisse liefert als in Kombination mit der schnöden alten lästigen liberalen Demokratie, die man bis vor kurzem noch für seine siamesische Zwillingsschwester gehalten hatte.
Systemüberwindung, oder doch nicht?
Ist es also vielleicht doch nicht der Kapitalismus, der am Ende ist? Zerschellen die Träume von einer Überwindung dieses Systems an seiner Beharrlichkeit?
Das Grazer Elevate Festival hat sich im Jahr 2014 mit einem "Creative Response" auf die Krise des Kapitalismus beschäftigt. Marie Motter hat für uns hier, hier und hier berichtet.
Man sollte ja die Schwarmintelligenz der Wahlbevölkerung nicht unterschätzen. Vielleicht ist das Abwählen von Demokratien zugunsten von kryptofaschistischen Patriarchen-Systemen ja einfach der Zeitgeist, den der oligarchische Postkapitalismus, im Marx'schen Sinne, notwendigerweise erzwingt? Vielleicht sind die ganzen DIY-Gemüse-Selbstversorgungs-Initiativen gar keine Vorboten für ein neues ökonomisches System, sondern bewusste oder unbewusste Vorbereitungen für eine Zeit, in der Selbstversorgung lebensnotwendig wird - nicht, weil der Kapitalismus uns nicht mehr versorgen kann, sondern weil er uns nicht mehr versorgen will?
Vielleicht sind ja die Träume von Post- und Netzdemokratie nichts anderes als Wahnvorstellungen einer abgehobenen Bourgeoisie, die nicht wahrhaben will, dass der Kapitalismus seine siamesische Zwillingsschwester gerade frisst und sich die - globalen wie nationalen - unteren Schichten von der Demokratie schon verabschiedet haben, weil sie ihnen nichts bringt, zumindest nicht das, was der Kapitalismus ihnen versprochen hat?
Kapitalismus-Tribunal in Wien
Der Think-Tank "Haus Bartleby" veranstaltet Anfang Mai in Wien sein "Kapitalismus-Tribunal". Hier und hier haben wir schon davon berichtet. In FM4 Auf Laut am 26.4. waren die Veranstalter zu Gast.
Ist es schon Mafia oder ist es noch Wirtschaft?
Der Übergang zwischen Kapitalismus und organisierter Kriminalität ist, wie Autoindustrie und Panama Papers gerade lebhaft vorführen, fließend, die Grenzen sind Übereinkünfte, die jederzeit, stillschweigend durch behördliche Untätigkeit oder offiziell durch legislative Tätigkeit, verschoben oder ganz aufgekündigt werden können. Während auf der einen Seite neue Oligarchien und alte Seilschaften diese Grenzen in ihrem Sinne verschieben, wirken auf der anderen Seite die Aufdecker eher harmlos, weil die Empörung einer Resignation weicht und statt in Systemkritik in Verschwörungstheorien mündet.
Verwirrung und Panik, Rechtsradikale und Verschwörer sind nur allzu gut fürs Geschäft, weil Angst und Verwirrung lähmen und kaum jemand mehr auf die Idee kommt, die Heerscharen von Kapitalismus-Alternativen ernst zu nehmen.
Karl Marx hatte noch die Utopie, dass beim unvermeidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus die geeinten Werktätigen gemeinsam die Macht übernehmen und sich ihr Paradies schaffen. Derzeit schaut es eher danach aus, als ob sich stattdessen die pseudoislamisch, pseudochristlich und sonstwie gefärbten Faschismen und Halbfaschismen gegenseitig aufheben. Wem das wohl nützt?
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FM4 Auf Laut - Ist der Kapitalismus ein Verbrechen?
Krise, Krise, Krise - das schöne Wort ist selbst in die Krise gekommen. Kapitalismus? Gibt es den noch? Ein ehemaliger griechischer Finanzminister sagt, dass wir uns seit 2008 gar nicht mehr im Kapitalismus befinden, sondern unter der Herrschaft einer "bancruptocracy". Andernorts wird viel von "Postkapitalismus" gesprochen. Das Berliner Zentrum für Karriereverweigerung, Haus Bartleby, will nun die Spielregeln einer zukünftigen Ökonomie ermitteln - beim ersten europäischen Kapitalismustribunal Anfang Mai in Wien. Lukas Tagwerker diskutiert mit den Veranstaltern und HörerInnen, am 26. April ab 21 Uhr in FM4 Auf Laut.
Im Anschluss gibt es die Sendung für 7 Tage im FM4 Player.