Erstellt am: 28. 4. 2016 - 11:49 Uhr
Wie wir leben wollen
"Es hat mich wahnsinnig erschreckt, als es dann anfing mit diesen PEGIDA- und LEGIDA-Demonstrationen hier in Leipzig", erinnert sich der in Leipzig lebende Autor Matthias Jügler. Da habe er bemerkt, wie stark verankert innerhalb seines allernächsten Umfeldes Fremdenfeindlichkeit sei.
"Ja, da wollen wir jetzt mal mitlaufen, damit die da uns nichts wegnehmen. Und wir müssen uns jetzt zu helfen wissen und wehren", waren Statements, die den Zustand für Matthias Jügler unerträglich machten.
Suhrkamp Verlag
Einfach weiter im Tagesgeschehen und an seinem zweiten Roman zu schreiben war für ihn im Herbst unvorstellbar. Wenn man ihn in 30 Jahren fragen würde was er denn damals gemacht habe und er antworten müsste: "Na, ich hab halt meinen zweiten Roman geschrieben, so eine DDR-Geschichte," würde er sich "wahnsinnig lächerlich vorkommen".
Schließlich sei doch die Aufgabe, von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, das, was passiert zu verarbeiten.
Und so hat Matthias Jügler im Oktober junge in Deutschland lebende Autorinnen und Autoren mit und ohne Migrationshintergrund gebeten, sich mit den Begriffen "Heimat", "Fremde" und "Identität" auseinanderzusetzen. Etablierte Namen finden sich dabei ebenso wie ganz junge AutorInnen.
Das Ergebnis sind 25 Texte, die ein Bild der deutschen Gesellschaft zur Flüchtlingsproblematik zeichnen, das größtenteils auch für Österreich gilt.
Biografisches neben Fiktionalem, essayistische Texte neben literarischen, Wut und Mitgefühl neben Angst und Engagement - all das findet sich in dem Sammelband "Wie wir leben wollen. Texte für Solidarität und Freiheit".
Von der ARAL zur richtigen Hautfarbe
"Zu Hause, denke ich, ist das Gefühl, nicht erzählen zu müssen, aber erzählen zu dürfen." Ulrike Draesner schreibt von einer Mutter und ihrer Adoptivtochter aus Sri Lanka, die aufgrund ihrer Hautfarbe in Deutschland immer wieder an Grenzen stößt. "Gedacht wird von der Gruppe der 'whites' aus. Non-white zieht eine Grenze. Sie heißt Du-nicht."
Mit der Hautfarbe beschäftigt sich auch Senthuran Varatharajah, dessen Familie floh 1984 vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka. "im kindergarten nahmen die erzieherinnen die braunen stifte aus unserer hand und legten hellrosane zwischen unsere finger. sie schlossen ihre hände um sie und sagten, ihren mund zu uns gewandt, so nah, dass die atemwärme noch auf der wange zu spüren war, als sie nicht mehr hinter uns standen, diese farbe nenne man hautfarbe, sie wiederholten es, diese farbe nennen wir hier hautfarbe, und wir sprachen es ihnen nach."
"Heimat heißt, es verändert sich nichts." lässt Inger-Maria Mahlke den Bewohner eines kleinen Kaffs der Gemischtwarenverkäuferin erklären. Diese scheint eine der wenigen im Dorf zu sein, die sich nicht vor zwölf Flüchtlingen fürchtet.
Saša Stanišic, der 1992 von Bosnien Herzegowina nach Heidelberg flüchtete, erzählt von seinem bereichernden Leben in der "ARAL" in Heidelberg. "Die soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. (….) Die ARAL-Tankstelle war Heidelbergs innere Schweiz: neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten von Wert war."
Lucy Fricke schreibt über diejenigen, die wissend aber mit schlechtem Gewissen in der gemütlichen Festung sitzen. "Wir gehen ins Theater, auf jeder Off-Bühne ein Flüchtling mit seiner Geschichte, dafür gibt's jetzt extra Fördergelder vom Senat, aber keine Pässe, keine Jobs, keine Wohnungen. (…) Wir wissen das und werden es so lange nicht begreifen, bis wir vor lauter Festung keinen Horizont mehr sehen."
"Freiheit ist vor allen Dingen harte Arbeit"
Sehr gelungen auch der Text "Nachts im Freien" von Heinz Helle. Denn nachts ist einerseits die Zeit, wo manche gern beim Feuer stehen und über ausländerfeindliche Bemerkungen lachen. "Im Freien" bezieht sich allerdings nicht nur auf das Draußen in der Natur, sondern auch auf Freiheit.
Heinz Heller schreibt von Leuten, die mit ihrer Freiheit gar nicht wirklich umgehen können, sondern vielmehr ihre Position gegenüber denjenigen ausnützen, die keine Freiheit haben. "Ihr habt das Recht euch nachts im Freien aufzuhalten - in Sichtweite der nächsten Flüchtlingsunterkunft" liest man da.
"Freiheit ist vor allen Dingen harte Arbeit. Aber sie ist die Voraussetzung, überhaut Mensch sein zu können," erklärt Heinz Helle im Interview. Recht und Freiheit sind für ihn unverrückbare Parameter. "Das Recht hat kein Gefühl. Das Recht ist etwas Kaltes, Rationales. Eigentlich wie die Freiheit. Die Vernunft und die Freiheit sind insofern ähnlich leer, weil sie das Gefühl nicht ansprechen und auch das Leben nicht mit Sinn füllen können. Aber sie sind der Rahmen, den wir brauchen, um überhaupt einen Sinn erzeugen zu können."